Manchmal hat man den Eindruck, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer hier in der Schweiz oder sonst wo im Ausland den Krieg noch stärker spüren als jene, die etwa in Kiew leben. Denn die meisten von uns haben ständig Heimweh. Und wissen, dass wir ohne den Krieg nicht hier wären. Der Krieg ist der Grund für den Aufenthalt hier. Er ist in unseren Gedanken immer präsent.

Hinzu kommen all die Nachrichten in den sozialen Medien, sie schüren Angst und verstärken die Unsicherheit und Ungewissheit. Medien und Intellektuelle in Europa sprechen von «Kriegsmüdigkeit». In anderen Ländern hörte man schon einen Monat nach Beginn der Invasion auf, über die Ukraine zu sprechen.

Kürzlich fragte mich auf einer internationalen Veranstaltung ein Delegierter aus Südamerika: «Ist der Krieg noch nicht vorbei? Unsere Medien haben seit April nichts mehr darüber berichtet, also dachte ich mir ...» Die Spenden seien im Vergleich zum März um das Achtfache zurückgegangen, sagt eine Freundin, die in der Ukraine für einen Freiwilligenfonds arbeitet.

Es wäre falsch, das Phänomen zu ignorieren. Mehr noch: Das gibt es auch innerhalb der Ukraine, denn die Menschen können ihr Leben nicht ewig auf die lange Bank schieben. Gleichzeitig gibt es eine ständige Wanderbewegung: Die Menschen ziehen von Osten nach Westen, dann kehren einige zurück und so weiter.

Zu unseren Treffen in der Bibliothek in Winterthur Tagebuch einer Flucht – Teil 3 «Die Raketen erschrecken uns auch in Winterthur» kommen immer mehr Leute. Alle haben die gleichen Fragen und verbreiten hartnäckig die immer gleichen Gerüchte, ohne sie zu hinterfragen. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen dazu neigen, Gerüchten zu glauben. Und Informationen vom Tisch wischen, die ihnen zu simpel vorkommen, vor allem wenn sie von Behörden stammen. Stattdessen hören sie auf die Meinungen von Bekannten, orientieren sich an ihren Erfahrungen – und vertrauen einer Telegram-Nachricht mehr als der Website eines Ministeriums.

Malerische Märkte hier, verrottete Ernten dort

In Winterthur gibts an den Samstagen Märkte, auf denen man perfekte Himbeeren finden kann und Erdbeeren, die nach Erdbeeren schmecken. Für die Einheimischen ist es kein Einkaufsbummel, sondern eine Gelegenheit, Zeit mit der Familie zu verbringen. Man schlendert zwischen den Reihen umher und betrachtet das ausgestellte Gemüse fast wie in einem Museum. Auf einem solchen Markt habe ich zum ersten Mal im Leben runde Auberginen gesehen.

In den besetzten Gebieten wird jetzt tonnenweise Gemüse einfach an den Strassenrand geworfen, die Besatzer zünden Weizenfelder an. Die Region Cherson sieht aus wie eine einzige grosse Müllhalde, auf der Tausende Tonnen Tomaten, Kohl und Wassermelonen verrotten. Die Besatzer verbieten es, die für den Export bestimmten Produkte aus der Region zu holen. Sie zwingen die Produzenten, sie zu verschenken.

Den Landwirten bleibt nichts anderes übrig, als ihre gesamte Arbeit auf den Müll zu werfen. Denn es ist einfach nicht möglich, solche Mengen zu lagern. Es ist verstörend, die Videos zu sehen: Männer, von der Sonne und harter Arbeit gezeichnet, weinen und werfen Lastwagenladungen von Lebensmitteln weg – ihr ganzes Einkommen für dieses Jahr.

Es wäre schön, wenn die Medien jener Länder, in die die Ukraine Lebensmittel exportiert, solche Reportagen zeigen würden. Und festhalten, dass diese Ernte auf ihren Tellern hätte landen sollen und nicht in der Steppe von Cherson. Ein leerer Teller und exorbitante Preise auf dem Markt könnten sanft daran erinnern, dass der Krieg noch nicht vorbei ist.

Ich bin immer noch da

Ich war schon einige Male in Cherson, einer kleinen Stadt im Süden, am Dnipro-Fluss, mit einer grossen Bibliothek direkt am Ufer. Aber in vielen anderen besetzten Städten – Sewerodonezk, Lyssytschansk, Enerhodar – war ich noch nicht. Vor kurzem habe ich erfahren, dass das dortige Atomkraftwerk Saporischschja das grösste in Europa ist und zu den zehn grössten der Welt gehört. Jetzt stehen russische Panzer auf dem Gelände.

Ich bin kürzlich online via Google Maps dorthin gefahren. Ich denke, die meisten von uns sind irgendwann einmal auf diese Weise gereist. Die meisten Strassenansichten sind ziemlich alt, von 2015 oder sogar 2013. Viele Gebäude und ganze Strassenzüge gibt es nicht mehr. Und natürlich viele Menschen.

Auch ich bin mindestens einmal auf Google Maps gelandet. Ich bin immer noch da, eingefroren im Jahr 2015, wie ich mit meinem Vater und meinem Bruder auf dem Land angeln gehe und der Hund des Nachbarn (der schon lange tot ist) bellt und am Zaun neben uns entlangläuft.

Ich bin froh, dass ich an diesem besonderen Ort und zu dieser Zeit festgehalten wurde, wo ich ruhig und gesund bin, an einem guten Ort mit Menschen, die ich liebe. Und wohin ich bald zurückkehren werde.

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Zur Person

Kateryna Potapenko

Kateryna Potapenko, 28, ist aus Kiew nach Winterthur zu Verwandten geflüchtet. Sie ist Literaturredaktorin beim Online-Magazin «Cedra» in Kiew und spricht Audiobücher auf Ukrainisch ein. Für den Beobachter erzählt sie in der Serie «Tagebuch einer Flucht» über ihr Leben als Geflüchtete in der Schweiz.

Quelle: private Aufnahme

Zuverlässige Informationen und bewährte Tricks für ukrainische Geflüchtete

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Sprachbarrieren und Gerüchte erschweren es geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern, sich in der Schweiz zurechtzufinden. Als selbst Betroffene kennt Kateryna Potapenko diese Schwierigkeiten bestens. In ihren Videos liefert die Journalistin zuverlässige Informationen zu drängenden Themen, die sie mit eigenen Erfahrungen ergänzt.
Quelle: Beobachter Bewegtbild
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