Das neue Geldspielgesetz, über das am 10. Juni abgestimmt wird, soll unter anderem die Suchtprävention stärken. Aber wie steht es in der Schweiz eigentlich um die Spielsucht? Eine Studie zeigt teils hochproblematisches Spielverhalten im Internet auf. Jochen Mutschler, Suchtexperte und Mitherausgeber der Studie, erklärt im Interview, wer von dieser Sucht gefährdet ist und was Prävention konkret bedeutet.

Beobachter: Herr Mutschler, droht das Online-Geldspiel zu einem grossen Problem zu werden? 
Jochen Mutschler: Ja, da die Prävention schwieriger ist als beim konventionellen Spiel. Die Gefahren können von den Betroffenen schlechter abgeschätzt werden. Ausserdem ist das Online-Gambling 24 Stunden am Tag verfügbar. Da es oftmals lange dauert, bis sich erste Probleme zeigen – zum Teil viele Jahre – ist es heute schwierig zu sagen, was in den nächsten Jahrzehnten auf uns Suchtmediziner zukommen wird. 

Beobachter: Was sind die Folgen von Spielsucht Spielsucht Bis zum letzten Hemd ?
Mutschler: In der Regel kommen Betroffene erst relativ spät in die Therapie, wenn sie bereits grössere Geldsummen verspielt haben. Nebst massiven finanziellen Problemen sind auch soziale Schwierigkeiten die Folge. Es kommt zu Eheproblemen oder zum Bruch mit dem sozialen Umfeld. Oder zu Arbeitsplatzverlust, wenn zum Beispiel Gelder veruntreut wurden oder die Leistungsfähigkeit nachlässt. Schwere Depressionen sind häufig und können sogar zu Suizid führen.

Beobachter: Sie haben eine Studie zum Online-Spielverhalten mit Daten eines grossen Schweizer Telekommunikationsanbieters gemacht. Was sind die wichtigsten Resultate?
Mutschler: Wir konnten sehen, dass sich sehr viele Menschen auf einer bekannten Online-Pokerplattform aktiv bewegten und zum Teil extrem lange spielten. Bis zu 112 Stunden in den gemessenen zwei Wochen, das sind durchschnittlich acht Stunden täglich. Und je problematischer das Spielverhalten wird, desto eher verlagert es sich auf die Nacht und die Arbeitszeiten. Rund 2 Prozent der Spieler zeigten Auffälligkeiten bezüglich Abhängigkeit und 8 Prozent ein riskantes Spielverhalten. Mit solchen Kenntnissen erhoffen wir uns, zukünftig auch präventive Massnahmen zu entwickeln (z.B. Apps), mit denen gefährdete Personen geschützt werden können. 

 

Schwere Depressionen sind häufig und können sogar zu Suizid führen.

Jochen Mutschler, Sucht-Experte bei der Privatklinik Meiringen

 

Beobachter: Was hat Sie überrascht?
Mutschler: Einerseits war es erstaunlich zu sehen, dass es viele Spieler mit wirklich exzessiv hohen Spielzeiten gab. Andererseits auch Minderjährige, die bereits aktiv auf der Seite spielen, obwohl das vom Anbieter her eigentlich nicht erlaubt wäre.

Beobachter: Wie kann man sie vor den Gefahren des Online-Geldspiels schützen?
Mutschler: Es braucht gute Präventionsarbeit und passende Therapieangebote. In der Schweiz gibt es leider bisher noch sehr wenige medizinische Therapien für Betroffene. Zudem ist noch viel Forschung in diesem Bereich nötig, um mehr Klarheit über die Ursachen und Therapie-Ansätze zu gewinnen. 

Beobachter: Wie sieht Prävention ganz konkret aus?
Mutschler: Man muss potenziell suchtgefährdete Spieler abfangen können, bevor sie in eine Sucht abrutschen. Bei normalen Casinos sind die Betreiber dazu verpflichtet und auch darauf geschult, direkt auf Leute zuzugehen, deren Verhalten problematisch ist. Notfalls sperren sie sie und verweigern ihnen den Zutritt. Und um solche Sperren aufheben zu können, muss man sich in der Schweiz vorher in eine ambulante Therapie begeben. Stark Süchtige umgehen diese Regeln allerdings häufig und weichen aufs nahe Ausland aus.

Beobachter: Und wie funktioniert Prävention bei Online-Spielen?
Mutschler: Im Moment gibt es sie gar nicht, denn die Spielangebote im Internet sind noch illegal. Man müsste die Anbieter dazu bringen, dass sie wie in den konventionellen Casinos auf die Nutzer zugehen und solche mit auffälligem Verhalten konfrontieren und allenfalls sanktionieren. Insofern wäre die Regulierung im Online-Markt mit dem Geldspielgesetz Geldspielgesetz Knacknuss freies Internet ein Fortschritt.

Beobachter: Sie wollen mit einer App gegen Spielsucht ankämpfen. Wie würde das funktionieren?
Mutschler: Während der Studie haben wir in einer Arbeitsgruppe intensiv an Ideen für eine solche Präventions-App gearbeitet. Eltern könnten es zum Beispiel auf den Handys ihrer Kinder installieren. Dadurch würden sie ein Feedback erhalten, wie die Nutzung ihres Kindes im Vergleich zur grossen Masse ist. Liegt sie im Durchschnitt? Oder ist das Kind im gefährdeten Bereich? Die Gefahr für Jugendliche liesse sich damit etwas abfangen. Es ist auf jeden Fall unser Ziel, etwas in dieser Art zu entwickeln.

Beobachter: Wer ist besonders gefährdet, spielsüchtig zu werden?
Mutschler: Primär sind das Personen, die bereits vorbelastet sind. Zum Beispiel Menschen, die schon psychisch erkrankt sind und Depressionen haben. Der Zustand verstärkt sich mit der Spielsucht und wird zu einem Teufelskreis. Zur Risikogruppe gehören insbesondere solche, die Integrationsprobleme jeglicher Art haben (wie etwa Arbeitslosigkeit und Schulprobleme), oder auch schlecht integrierte Migranten. 

 

Der Zustand verstärkt sich mit der Spielsucht und wird zu einem Teufelskreis.

Jochen Mutschler, Sucht-Experte bei der Privatklinik Meiringen

 

Beobachter: Wie sieht eine Therapie aus?
Mutschler: In der Schweiz gibt es für Spielsüchtige bislang keine spezifischen stationären Therapien in Kliniken, sondern nur ambulante Therapien. Das ist üblicherweise eine Einzeltherapie mit individuellem, verhaltenstherapeutischem Ansatz, meist unter Einbezug von Angehörigen. Es gibt auch Medikamente, die helfen können. Auf jeden Fall braucht es eine gründliche und ganzheitliche Diagnose, um zu entscheiden, was im Einzelfall das Richtige ist. 

Beobachter: Muss man als Online-Spielsüchtiger denn aufs Handy verzichten?
Mutschler: Das ist nicht zwingend nötig. Aber je nachdem kann es im Einzelfall schon sinnvoll sein, mal Abstand vom Smartphone zu nehmen. 

Beobachter: Mit dem Geldspielgesetz sollen Online-Geldspiele legalisiert Geld- und Glücksspiele Was ist erlaubt, was verboten? und der Markt stärker reguliert werden. Wie denken Sie als Sucht-Experte über dieses Gesetz und die Abstimmung?
Mutschler: Durch eine Regulierung des Markts gibt es vielleicht die Möglichkeit so einzugreifen, dass Betroffene erst gar nicht abhängig, sondern vorher identifiziert und geschützt werden. Andererseits sind Netzsperren von einigen auch leicht zu umgehen. Deshalb glaube ich, kommen wir wohl nicht umher, Forschung und Therapie auszubauen: einerseits um die Problematik genauer zu verstehen und andererseits um Betroffenen und ihren Angehörigen besser helfen zu können. 

Studie: Spielsucht messen mit Handy-Daten

In einer Studie zu Online-Spielen konnten Forscher der Universitäten Zürich, Heidelberg und Mannheim mit anonymisierten Daten eines grossen Schweizer Telekommunikationsunternehmens messen, wie lange und wie oft die Nutzer innerhalb von zwei Wochen auf einer bestimmten Poker-Seite spielten. Mit dieser Studie testeten die Herausgeber einen neuen Ansatz, um die Verbreitung von Spielsucht zu eruieren. Bisherige Studien stützten sich primär auf Erhebungen direkt bei den Betroffenen oder Angaben von Spielanbietern. Solche Erhebungen brachten methodische Einschränkungen mit sich, wie zum Beispiel «sozial erwünschte» Antworten, sprich: Betroffene bagatellisierten ihr Spielverhalten. Der neue Ansatz biete eine höhere Objektivität bezüglich der tatsächlichen Zugriffszahlen auf die Online-Spielseite, so Sucht-Experte Jochen Mutschler.
 

Zur Studie: «Telecommunications Network Measurements of Online Gambling Behavior in Switzerland: A Feasability Study.»

Portrait Jochen Mutschler
Quelle: Privatklinik Meiringen

Jochen Mutschler ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt bei der Privatklinik Meiringen. 
 

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