Bericht enthüllt jahrzehntelanges Leid in Kinderheim
Im Kinderheim Einsiedeln herrschte ein Klima der Angst, es gab drakonische Strafen und körperliche und sexuelle Übergriffe. Der Bericht eines Forschungsteams verschafft Betroffenen Genugtuung.
Veröffentlicht am 29. September 2025 - 16:28 Uhr
Waisenhaus Einsiedeln, Aufnahme um zirka 1960
«Alle haben davon gewusst, geholfen hat uns niemand.» Mit Sätzen wie diesem haben sich Bewohnerinnen und Bewohner des Kinderheims Einsiedeln vor sechs Jahren im Beobachter an die Öffentlichkeit gewandt. Sie wagten diesen Schritt, weil sie kurz zuvor vom früheren Heimleiter kontaktiert wurden, der im Alter nach Einsiedeln zurückkehrte. Das riss bei ihnen alte Wunden auf.
Der Heimleiter, der das Waisenhaus 1967 von den Ingenbohler Schwestern übernommen hatte, blieb den ehemaligen Zöglingen in schlechter Erinnerung. Er hatte die Institution bis zu ihrer Schliessung 1972 geführt. Mehrere berichteten über seine Tobsuchtsanfälle und wie sie unter seinen Schlägen litten. Sie berichteten auch über sexuelle Übergriffe.
Unabhängige historische Untersuchung
2022 gab der Bezirksrat Einsiedeln einem Forschungsteam unter der Leitung von Historiker Kevin Heiniger eine unabhängige historische Untersuchung zum Kinderheim in Auftrag. Dieser Bericht liegt nun vor. «Er dokumentiert, wie soziale Kontrolle, religiöser Eifer, staatliche Vernachlässigung und wirtschaftliche Überlegungen zu einem System verschmolzen, das in vielen Fällen nicht dem Wohl des Kindes diente, sondern ihm schadete», wie der Bezirksrat festhält.
«Nicht alle in Einsiedeln fanden es gut, dass wir die Geschichte des Kinderheims aufarbeiten.»
Franz Pirker, Präsident des Beirats
Der vormalige Bezirksammann Franz Pirker, der den Beirat für die Aufarbeitung präsidierte, sagte an der Präsentation des Berichts: «Die Zeit, die Geschichte des Heims aufzuarbeiten, wäre wohl schon vor 25 Jahren reif gewesen. Doch immer wieder hoffte man, dass Gras darüberwächst. Nicht alle in Einsiedeln fanden es gut, dass wir die Geschichte des Kinderheims aufarbeiten.»
Mit kurzem Unterbruch ein «Klima der Angst»
Im Bericht erzählen Betroffene unter anderem, wie in Einsiedeln unter den Ingenbohler Schwestern Morgen für Morgen Kinder für ihr Bettnässen blossgestellt, gedemütigt und bestraft wurden. Der Historikerbericht zitiert einstige Bewohner, die von den Nonnen mit dem Kopf in die eingenässte Wäsche gedrückt wurden. «Sie wurden kalt abgeduscht, mit dem Kopf mehrfach bis fast zum Ersticken in eiskaltem Wasser untergetaucht und geschlagen.» Es habe ein «Klima der Angst» geherrscht.
Den Wechsel von der geistlichen hin zu einer weltlichen Leitung des Kinderheims 1967 schildern im Bericht mehrere Zeitzeugen durchaus positiv: Der Tagesablauf veränderte sich, die Gebete fielen weg, Kinder durften spielen, basteln und musizieren. Der neue Heimleiter sei anfänglich «umgänglich» und «liebevoll» gewesen. Er habe sogar eine Gruppenleiterin angewiesen, dass man Kinder nicht anschreie.
Doch als nach etwa einem Jahr die Ehefrau des Heimleiters eingezogen sei, habe sich die Atmosphäre spürbar verändert. Was genau zur Veränderung führte, kann gemäss den Forschenden nicht abschliessend beantwortet werden. Doch der Heimleiter sei ab diesem Zeitpunkt «sehr jähzornig» gewesen, sei auf die Kinder losgegangen und habe sie wegen Kleinigkeiten verprügelt.
Heimkinder und Angestellte berichten von Übergriffen
«Dann fingen auch die sexuellen Übergriffe an», zitiert der Bericht eine betroffene Person. Verschiedene ehemalige Heimkinder und Angestellte thematisierten gegenüber den Forschenden explizit sexuelle Übergriffe. Sowohl Mädchen als auch Knaben seien betroffen gewesen. Er habe ihre Geschlechtsteile «angefasst», etwa wenn Kinder Hausaufgaben erledigten, bei hauswirtschaftlichen Arbeiten oder beim Zubettgehen.
Das Ende des Heims zeichnete sich im Sommer 1972 ab. Es kam zu einer Aussprache zwischen der Fürsorgekommission und dem «Heimvater», ausgelöst durch «verschiedene Vorkommnisse im Heim». Der Heimleiter kündigte daraufhin, und die noch verbliebenen Kinder wurden Ende 1972 umplatziert.
- Bezirksverwaltung Einsiedeln: Schlussbericht Aufarbeitung Waisenhaus und Kinderheim Einsiedeln; 1861 bis 1972
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