Darum konnte der Basler Dreifachmörder wieder zuschlagen
Als der Wahn überhandnimmt, tötet ein junger Mann zwei Frauen. Zehn Jahre später sitzt er wieder wegen Mordes vor Gericht. Der Beobachter erklärt, wie das passieren konnte.

Veröffentlicht am 23. Dezember 2025 - 12:37 Uhr

Im August 2024 beging der heute 33-jährige Mann auf einem unbegleiteten UPK-Freigang die gleiche Tat wie vor zehn Jahren.
Elisabeth Bauer ärgert sich, als sie in die Waschküche kommt und merkt, dass jemand ihre Wäsche aus dem Tumbler genommen hat. Sie wohnt in einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus am Nasenweg in Basel. Ihr Nachbar hat einen Zettel an das Gerät geklebt, sie könne die Wäsche bei ihm abholen.
Die 42-jährige Bauer, die eigentlich anders heisst, ahnt nicht, dass dieser alltägliche Konflikt unter Nachbarn ein Mosaikstein in einer Mordserie werden sollte, der auch sie selber zum Opfer fallen wird.
Sie hatten keine Chance
Wenig später klingelt der Sohn des Nachbarn bei ihr. Es ist der 3. November 2014. Als Elisabeth Bauer die Tür öffnet, rammt ihr Raphael Meier, auch er heisst eigentlich anders, ein Messer in den Hals. Er sticht mindestens achtmal zu. Sie hat keine Chance und stirbt noch an Ort und Stelle.
Meier flüchtet und greift in einem anderen Wohnhaus einen 88-jährigen Mann an. Als dessen Nachbarin ihm zu Hilfe eilt, trifft Meier mit einem Messerstich ihre Schlagader am Schlüsselbein. Sie verblutet.
Raphael Meier, zur Tatzeit gerade mal 22 Jahre alt, wird 2015 wegen Mordes verurteilt. Da er aber an Schizophrenie leidet und die Taten offenbar im Wahn begangen hat, hat er nicht schuldhaft gehandelt. Es kommt zu einer langjährigen stationären Massnahme in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK).
Wieder auf derselben Anklagebank
Zehn Jahre später, im Dezember 2025, sitzt der inzwischen 33-jährige Raphael Meier erneut im Strafgericht Basel-Stadt – angeklagt wegen eines weiteren Mordes. Meier rutscht nervös auf seinem Stuhl umher, reibt sich die Hände an seinen Oberschenkeln und fasst sich immer wieder ins Gesicht. Im Jahr zuvor, im August 2024, hat er eine dritte Frau brutal erstochen. Wieder am Nasenweg.
Man fragt sich unweigerlich: Wie konnte das nur passieren?
In einer kurzen Übersicht wollen wir aufzeigen, was mit psychisch kranken Straftätern passiert – und wie ein Massnahmenvollzug in solchen Fällen abläuft.
Was ist eine stationäre Massnahme?
Bei psychisch kranken Tätern reicht eine Strafe allein oft nicht, um sie von weiteren Taten abzuhalten. In diesen Fällen kann das Gericht eine therapeutische Massnahme anordnen, die stationär oder ambulant erfolgt. Das Ziel ist, den Täter zu behandeln und schrittweise wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die Massnahme muss alle fünf Jahre neu beurteilt werden.
Wenn zu erwarten ist, dass der Täter wieder schwere Straftaten wie zum Beispiel einen Mord begehen oder eine Therapie erfolglos sein wird, kann das Gericht eine Verwahrung aussprechen. Sie ist unbefristet und soll in erster Linie die Gesellschaft vor dem Täter schützen. Seine Behandlung steht hier nicht im Vordergrund.
Lockerungen während der Massnahme: Wie läuft das ab?
Blicken wir zurück auf das Jahr 2024, als Raphael Meier erneut zum Mörder wurde. Im August jenes Jahres befindet sich Meier noch immer in einer stationären Massnahme. Als er an den Ort seiner ersten Tat zurückkehrt, hat er unbegleiteten Ausgang. Er holt sich aus der Wohnung des Vaters am Nasenweg ein grosses Messer. Im Treppenhaus begegnet er einer 75-jährigen Anwohnerin, die gerade von ihrem Einkauf nach Hause kommt. Auch sie hatte einen Konflikt mit seinem Vater – wegen eines Kellerabteils. Er sticht mehrmals zu: in ihren Hals, ihre Brust. Zuletzt schneidet er ihr die Kehle durch. Sie hat keine Chance und stirbt sofort.
Wie kam es, dass Meier sich überhaupt frei bewegen konnte? Nun, eine stationäre Massnahme soll grundsätzlich stufenweise gelockert werden, wenn der Täter sich bewährt. Er soll resozialisiert werden. Es gibt etwa 20 feingradige Lockerungsstufen. So kommt es zum offenen Vollzug, zu einer möglichen Arbeit ausserhalb der Einrichtung und zu Ausgängen. Auch ein betreutes Wohnen ausserhalb der Klinik ist möglich. Am Schluss steht die bedingte Entlassung.
Wer entscheidet über Ausgänge?
Die behandelnden Ärzte oder der Täter selbst können Vollzugslockerungen beantragen. Bewilligen muss sie schlussendlich immer die zuständige kantonale Behörde. Bei schweren Straftaten muss diese den Antrag einer Fachkommission, zusammengesetzt aus unabhängigen Personen etwa von der Staatsanwaltschaft, den Vollzugsbehörden und forensischen Psychiatern, vorlegen. Und: Die Behörde holt zusätzlich ein externes, unabhängiges Gutachten ein. Erst dann entscheidet sie über die Lockerung.
Extrem wenig Rückfälle
«Mit diesem engmaschigen System gibt es extrem wenig Rückfälle», sagt Marc Graf. Er ist forensischer Psychiater und war von 2011 bis kurz vor der zweiten Tat Meiers Direktor der Klinik für Forensik der UPK Basel. Seit dieses System 1993 eingeführt wurde, habe es in der Deutschschweiz neben dem Nasenweg-Fall erst einen schweren Rückfall gegeben, so Graf. Er ist der Meinung, dass man diese Zahl nur dann auf null bringen könnte, wenn man komplett von einer Resozialisierung von Tätern absähe – was gegen unser bewährtes Justizsystem spreche.
Wer haftet, wenn das Risiko falsch eingeschätzt wurde?
Auf die Frage, wann denn ein Entscheid ein Fehler sei, meint der forensische Psychiater: «Wenn man ohne gute Gründe von einem Standard abweicht.» Folge man allen Standards und biete man die bestmögliche Behandlung, sei nicht jedes negative Ereignis auch ein Fehler, so Marc Graf.
Wenn die zuständigen Behörden also einen Anhaltspunkt haben, dass etwas nicht nach Vorschrift gelaufen ist, kommt es zu einer strafrechtlichen Prüfung. Wenn das Strafgericht einen Verstoss feststellt, müsste man für die Haftung als Nächstes prüfen, wer den Fehler gemacht hat. Hat die Vollzugsbehörde ein Gutachten ignoriert? Hat sich die Klinik einer behördlichen Anordnung widersetzt? Ging eine Pflegerin mit ihrem Insassenkumpel mal kurz für ein paar Stunden raus?
Der Mord war nicht voraussehbar
Im Fall Meier sind sich die Staatsanwaltschaft, das Gericht und der Anwalt des Täters einig: Niemand hätte den erneuten Mord am Nasenweg voraussehen können. Es gibt keine Hinweise darauf, dass irgendwo ein Fehler passiert ist.
Meier hatte seit seinen ersten Taten im Jahr 2014 kein aggressives Verhalten mehr gezeigt und war so behandelt worden, wie ein Schizophreniepatient normalerweise behandelt wird. Er hatte über 100 Ausgänge, bei denen er sich nie etwas zu Schulden kommen liess, und arbeitete halbtags in einer Küche. Und wenn er zwischendurch wahnhafte Schübe hatte, wurden die Lockerungen immer zurückgestuft.
Offenbar hatte Meier seine Therapeutinnen und Therapeuten nie komplett in seine «zweite Welt» gelassen, wie das Strafgericht Basel-Stadt in seinem letzten Urteil festhält. Diese «zweite Welt» habe nach Meiers Aussagen aus Figuren, Dämonen und Heiligen bestanden, denen er alles geglaubt habe. So habe er auch die Anweisung bekommen, erneut zu töten, da er vor zehn Jahren am Nasenweg die falsche Frau ermordet habe. Niemand konnte davon wissen, so das Gericht. Inwiefern die Nachbarschaftskonflikte eine Rolle spielten, wisse man auch nicht.
Urteil: Verwahrung
Es sei ein Drama für die Angehörigen, eine Tragödie für alle Beteiligten, sagt Meiers Verteidiger in seinem Schlussplädoyer. Auch für Meier selbst: Es sei bis jetzt nicht gelungen, den Terror in seinem Kopf zu verdrängen – wegen einer Krankheit, für die er nichts könne.
Das Strafgericht verurteilt ihn wegen Mordes zu einer Verwahrung. Meier kann das Urteil innerhalb von zehn Tagen anfechten. Die meisten Menschen, die verwahrt werden, kommen nie mehr auf freien Fuss.
- Teilnahme des Beobachters am Mordprozess in Basel am 17. Dezember 2025
- Interview mit Professor Marc Graf
- Strafgesetzbuch: Art. 34ff. StGB




