Zwischen 2001 und 2009 zweigte A. G.* als Berater des italienischen Gewerkschaftsberatungsbüros Inca/CGIL in Zürich Pensionskassengelder von rund 250 Gastarbeitern ab. In einer Art Umlageverfahren liess er sich das Kapital der Rentner auszahlen und überwies ihnen häppchenweise Pseudorenten. Dazu fälschte er ihre Unterschriften oder überredete sie zu Blankounterschriften, die er sich vom italienischen Konsulat beglaubigen liess.

Mit dem Geld finanzierte er vermutlich seinen teuren Lebensstil, 2009 kollabierte das System. 76 der Fälle im Umfang von 12 Millionen Franken rekonstruierte die Staatsanwaltschaft, von über 7 Millionen fehlt bis heute jede Spur. Anfang 2017 wurde A. G. in zweiter Instanz zu sieben Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt – wegen jahrelangen gewerbsmässigen Betrugs, Veruntreuung und mehrfacher Urkundenfälschung Straftaten Wir alle sind Verbrecher .
 

Gerichtliches Nachspiel

Die Geschädigten versuchten in mehreren Fällen – teils mit finanzieller Unterstützung der Stiftung SOS Beobachter –, juristisch gegen die Vorsorgeeinrichtungen vorzugehen. Sie argumentierten, dass die Pensionskasse bei der Kapitalauszahlung der Altersvorsorge ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe. In 13 Fällen zogen Geschädigte bis vor Bundesgericht, in fünf Fällen waren sie erfolgreich, in acht Fällen stellte sich das Bundesgericht hinter die Pensionskassen.

Die Geprellten gingen auch gegen das gewerkschaftliche Beratungsbüro Inca/CGIL vor – und erhielten recht. Als Arbeitgeber des Betrügers müsste Inca für den Schaden aufkommen, doch der Verein ging in Konkurs und wurde inzwischen liquidiert. Er bietet seine Dienste heute unter einem neuen Namen an.

Noch offen ist in Italien ein Verfahren gegen das Mutterhaus respektive gegen das dortige Arbeitsministerium als Aufsichtsstelle dieser Beratungsbüros. Seit mehreren Jahren ist das Verfahren pendent, ein Abschluss ist derzeit nicht absehbar. Im italienischen Parlament versandeten zahlreiche Anfragen und Untersuchungen. Im Bundeshaus blieben politische Vorstösse, die auf einen besseren Schutz von Versicherten Versicherungsgesetz im Nationalrat Was sich für Versicherte ändern soll – oder eben nicht abzielten, chancenlos.


Beobachter: Ein Betrüger lässt sich das Pensionskassenkapital von 250 Arbeitern auszahlen. Das Bundesgericht hat 13 Fälle behandelt – und sich in acht davon auf die Seite der Pensionskasse geschlagen.
Ueli Kieser: Von aussen ist das tatsächlich nicht so leicht zu verstehen. Auch für mich sind die Urteile nicht völlig schlüssig.


Der Betrug lief immer gleich ab. Aber das Bundesgericht entschied einmal, die Pensionskasse habe die Sorgfaltspflicht verletzt, ein anderes Mal waren die Versicherten schuld.
Das Bundesgericht hat bei jedem einzelnen Fall die ganz konkreten Umstände beurteilt. Und tatsächlich sind die Fälle im Detail immer ein bisschen unterschiedlich. Der Betrüger gestaltete beispielsweise die Vollmachten nicht immer gleich. Einigen Rentnern zahlte er eine Art Pension aus, andere wiederum erhielten kein Geld von ihm. Jeder Fall hatte seine Eigenheiten. Aber das Grundproblem war überall das gleiche. Es ging um Menschen, die betrogen wurden.


Die betrogenen Rentner haben alles verloren – nicht aus eigenem Verschulden. Sind sie juristisch gesehen jetzt sogar mitschuldig?
Das kann man so sagen. Das Bundesgericht gewichtete die einzelnen Umstände sehr stark – aber weniger die Komponente, dass der Betrüger auf hochraffinierte Weise viele Leute hereingelegt hat. Es hätte auch zum Schluss kommen können, dass dieses raffinierte Betrugssystem allein ausreiche, damit nicht jeder einzelne Betrogene den Schaden selbst tragen muss. Das Problem war nur: Auch die Pensionskassen wussten nicht, dass ein Betrüger am Werk war. Deshalb beurteilte das Bundesgericht schliesslich, wer weniger aufmerksam gewesen war: die Pensionskasse oder die Versicherten. Für mich sind diese Entscheide aber alles in allem unbefriedigend.


Man könnte meinen, die Pensionskassen und Versicherungen hätten sich abgesprochen. Immer wenn ein Fall zugunsten Geschädigter ausging, wurde die Argumentation so angepasst, dass beim nächsten Fall die Pensionskasse obsiegte.
Diesen Eindruck habe ich auch. Am Anfang war die Argumentation relativ einfach: Es ging darum, festzustellen, dass Pensionskassen bei der Auszahlung von gespartem Kapital besonders hohe Anforderungen an die Sorgfalt erfüllen müssen. Erfolgreich waren wir vor Gericht tendenziell mit den ersten Fällen. Vielleicht dachten die Gerichte damals, es handle sich um Einzelfälle, und urteilten deshalb eher zugunsten der Rentner.


Als klar wurde, dass womöglich 200 Fälle auf die Gerichte zukommen könnten, wurden sie strenger?
Zu diesem Schluss kann man durchaus kommen. Die Argumentation der Versicherungen wurde aus meiner Sicht immer raffinierter, und die Gerichte urteilten im Quervergleich immer strenger – bewusst oder unbewusst.
 

«Viele sind mit dem System der beruflichen Vorsorge sowieso schon völlig überfordert. Und jetzt verlangt das Bundesgericht von ihnen noch eine derart hohe Aufmerksamkeit.»

Ueli Kieser, Rechtsanwalt

Sie wollten mit einigen Urteilen bewirken, dass bei Kapitalauszahlungen hohe Anforderungen an die Sorgfalt gelten – um dann für die vielen Geschädigten das Geld zurückzuholen. Mit dieser verkappten Sammelklage sind Sie gescheitert.
Ja, aber trotzdem müssten die Urteile der Gerichte im Vergleich bestehen können. Es darf nicht sein, dass es am Anfang für die Geschädigten einfacher ist als am Schluss.


Was lernen wir daraus? Muss man beim Auszahlen von Rentenkapital noch mehr aufpassen?
Genau. Die Versicherten müssen sehr aufmerksam sein, wenn es um ihre Pensionskassengelder geht. Aber viele sind mit dem System der beruflichen Vorsorge sowieso schon völlig überfordert. Und jetzt verlangt das Bundesgericht von ihnen noch eine derart hohe Aufmerksamkeit.


Der damalige Arbeitgeber des Betrügers, eine italienische Sozialberatung, müsste für den Schaden geradestehen, ist aber liquidiert. Müssen die Betrugsopfer nun alle ihre Ersparnisse abschreiben?
Ja, das ist leider so. Für mich ist klar: Es braucht einen besseren Schutz für die Versicherten. Wer soll den Schaden tragen, wenn in einer Sozialversicherung betrügerisch Gelder abgezweigt werden? Meiner Meinung nach braucht es bei strafbaren Ereignissen irgendeine Einrichtung, die einen solchen Schaden ersetzt.


Das Parlament zeigte für solche Fragen bisher schlicht kein Interesse. Wie ändert sich das?
Es braucht jemanden, der sich in solchen Fällen für die Geschädigten einsetzt. Vom Wesen der Sozialversicherungen wäre es eigentlich logisch, dass die Geschädigten einen Verlust nicht selber tragen müssen, wenn sie einem Betrüger aufgesessen sind. Natürlich kann eine Sozialversicherung auch nichts dafür. Auch sie wurde betrogen. Aber es geht um den Interessenausgleich. Die einzelnen Versicherten müssten besser geschützt sein. 


* Name geändert
 

zur Person

Ueli Kieser, Vizedirektor IRP-HSG

Ueli Kieser ist Rechtsanwalt und Titularprofessor für Sozialversicherungsrecht und Gesundheitsrecht an der Universität St. Gallen (HSG). Er vertrat in mehreren Inca-Fällen Geschädigte vor Gericht.

Quelle: Keystone/Lukas Lehmann
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