Wenn Barbara Müller ein Tier wäre, dann eine Katze. Eine nepalesische Marmorkatze wahrscheinlich. Weil Müller das bergige Nepal liebt. Marmorkatzen sind kämpferisch, zäh und unbelehrbar, und sie machen besonders oft den Buckel.

Barbara Müller zeigt ihren Buckel oft, sie ist kampferprobt. Derzeit liegt die Geologin mit dem Kantonsspital Frauenfeld im Clinch. Die 54-Jährige hat schon viele Verfahren gegen die IV und andere Institutionen hinter sich, die meisten hat sie gewonnen. Mehrfach zog sie bis vor Bundesgericht.

«Sie ist eine IV-Geschädigte», sagt ihr langjähriger Rechtsvertreter und Vertrauter Daniel Meier. Die langwierigen und oft mühsamen IV-Verfahren seien ermüdend und machten mit der Zeit aggressiv, meint er damit. «Wenn sie nicht ‹chifle› kann, dann geht es ihr nicht gut», sagt etwas prosaischer ein Freund, der fünfmal mit ihr in Nepal war.

Humor, Hartnäckigkeit und Streitlust

Müller ist sehbehindert. Sie leidet an einer Erkrankung der Netzhaut, nimmt ihre Umwelt durch einen immer enger werdenden Tunnel wahr. Deshalb bezieht sie eine Teilrente von der IV. Die schwindende Sehkraft gleicht Müller durch bissigen Humor, wissenschaftliche Hartnäckigkeit und Streitlust aus. Sie zeigt ihre Krallen, wo sie nur kann – als Thurgauer SP-Kantonsrätin, Geologin oder IV-Versicherte. Oft sachlich brillant, aber auch besserwisserisch und detailversessen. «Ich bin eine Exotin. Ich überfordere viele und ecke an», sagt Müller.

In Nepal eckt sie nicht an. Dort ist sie offline, erhält keine Post von der IV, hat keinen Druck. Sie ist begeistert von dem Land. «Ich liebe das Hochgebirge, weil dort keine Pflanzen den Blick auf die Gesteinswelt verdecken», sagt Müller. «Dort oben ist mir richtig wohl.» Die hoch spezialisierte Geologin analysiert Gesteine mit chemischen Methoden. Verschiedene Stiftungen finanzieren ihre Forschung.

Seit 30 Jahren besucht Müller Nepal, war schon 22-mal dort. Diesen Sommer bereiste sie sieben Wochen lang die abgelegenen Provinzen Dolpo und Mustang. Sie erforschte, wie das Halbmetall Arsen ins nepalesische Grundwasser kommt. Die zahlreichen Gesteinsproben werden nun in spezialisierten Labors in der Schweiz untersucht. «Für viele ist das obere Dolpo wohl dürr, unwirtlich, ungastlich. Für mich eine Traumlandschaft schlechthin: Es kann ohne störende Einflüsse im geologischen Buch gelesen werden.»

Der Zusammenbruch im Skilager

Dass Barbara Müller noch nach Nepal reisen kann, gleicht einem Wunder. Am 19. Januar 2007 brach sie in Frutigen im Berner Oberland zusammen. Sie wollte dort mit einer Gruppe des Schweizerischen Blindenverbands eine Skiwoche verbringen.

Urs Ramu, Leiter der Blindenskischule Frutigen, erinnert sich: «Es war das Schlimmste, was mir je passiert ist.» Er habe das Gepäck der Gruppe zum nahen Hotel gefahren. Die Gruppe machte sich zu Fuss auf, die Teilnehmer kannten den Weg. Als er im Hotel ankam, lag Müller, keine 100 Meter entfernt, bewusstlos am Boden. Die Notfallärztin und die Ambulanz waren rasch vor Ort. Müller wurde ins Spital Frutigen gebracht.

Ein paar Tage zuvor war ihr Bein geschwollen, sie mass dem aber keine Bedeutung zu. Eine Thrombose. Durch die lange Zugfahrt hatte sich das Problem akut verschärft. Müller wurde sofort mit der Ambulanz ins Inselspital Bern überführt. «Die Ärztin sagte, ihre Chancen ständen fifty-fifty», erzählt Skilehrer Ramu. Lebensgefahr. «Wir waren erschüttert.»

Müller hatte eine doppelte zentrale Lungenembolie erlitten, beide Lungenschlagadern waren verstopft. Ein seltener Vorfall, den die meisten nicht überleben. Barbara Müller hatte Glück. Ein Spezialist operierte sie, ihr zäher Körper überstand die brachiale Öffnung des Brustkorbs.

Eine riesige Narbe zeugt noch heute davon. «Ich fühlte mich absolut hilflos», erinnert sie sich. Das hinderte sie aber nicht daran, kurz nach der Operation einen Laptop ins Zimmer zu verlangen, da ihr langweilig war.

Trekking
Quelle: Andreas Gefe

«Bewegung tut mir gut. Deshalb geht es mir in Nepal so gut. Weil ich den ganzen Tag auf den Beinen bin.»

«Die rasche körperliche Erholung hat sicher mit Barbaras starkem Willen zu tun», meint Skilehrer Ramu. «Auch ihr angeborener Bewegungsdrang und die vielen sportlichen Betätigungen haben dazu geführt, dass sie sich wieder in ein normales Leben zurückkämpfen konnte.» Normal? Nichts im Leben von Barbara Müller ist normal, wenn man ihren Erzählungen glaubt. Erholt habe sie sich nur, weil sie so gut trainiert war, eine Höhenbergsteigerin, gewohnt, in Extremsituationen zu funktionieren, sagt sie.

Keine Reha, keine Unterstützung

Nach einer solchen Operation muss man das richtige Atmen bewusst üben, sonst nimmt man wegen der Schmerzen eine Schonhaltung an. Eine Einführung in die Atemtherapie erhielt Müller nur einmal, im Inselspital Bern, als sie noch sehr mitgenommen war.

Schon zwei Tage nach der Operation wurde sie ins Kantonsspital Frauenfeld verlegt. Weil sie im Thurgau lebt. Dort erhielt sie weder Physio- noch Atemtherapie, keine Reha. Auch keine psychologische Unterstützung, die nach einem lebensbedrohlichen Eingriff eigentlich Standard ist. «Keine Nachsorge, nichts. Nur Schmerzmedikamente», so Müller. Nach vier Wochen geht sie wieder arbeiten, so lange wurde sie krankgeschrieben. Nach sechs Wochen stand sie wieder auf den Skiern. Unglaublich.

«Wir können mit bestem Willen keinen realistischen Zusammenhang zwischen ihrem heutigen Gesundheitszustand und dem damaligen Spitalaufenthalt erkennen. Die Patientin hat auf einen raschen Austritt gedrängt.»

 

Marc Kohler, Chef der Spital Thurgau AG

Erst Jahre später, im Frühling 2015, stellt ihr Rheumatologe fest, dass ihr Oberkörper «muskulär instabil» sei. Das erklärt die starken Schmerzen, die sie beim Sitzen und Stehen hat. Sie kann nicht länger als 30 Minuten am Stück am Computer arbeiten. Einzig Bewegung hilft.

Und Schmerzmittel, die sie in hohen Dosen einnimmt. «Ohne käme ich nicht zurecht», sagt sie. Hals, Arme, Schultern und Brustkorb tun weh. Weil der Oberkörper eigentlich mit der Brustmuskulatur gestützt wird. Doch nach dem Zusammenbruch glich sie das jahrelang mit Arm- und Nackenmuskulatur aus, eine Schonhaltung. «Das kommt daher, dass ich damals keine Reha bekommen habe», sagt sie.

Dass eine Reha angebracht gewesen wäre, bestätigt der damalige operierende Arzt am Inselspital Bern. Er schreibt: «Dieses akute lebensbedrohliche Ereignis mit anschliessender notfallmässig durchgeführter Operation (…) bedarf einer dezidierten Nachsorge. (…) generell organisieren wir eine stationäre kardiale Rehabilitation (…). Das bezieht sich auf die physische Erholung sowie auch ganz wesentlich auf eine psychologische Betreuung, die nach diesen lebensbedrohlichen Eingriffen unumgänglich ist.» Einfach gesagt: Eine Reha mit Therapie ist bei solch einer gravierenden Verletzung angebracht. Warum das Kantonsspital Frauenfeld sie bei Barbara Müller unterliess, ist unklar.

Zu viel wurde versäumt

Seit Mai 2016 absolviert Müller zweimal pro Woche eine medizinische Trainingstherapie zum Aufbau der Muskulatur, in der Uniklinik Balgrist Movemed in Zürich. Das stabilisiert. Verbessern kann man den heutigen Zustand nicht, zu viel wurde versäumt. Die Ärzte raten ihr zu einer mehrwöchigen stationären Reha. Doch die Krankenkasse hat die Kostengutsprache dafür abgelehnt, ein Widererwägungsgesuch läuft. «Ich ziehe auch vor Gericht, wenn es sein muss», so Müller. Ihr Kampfgeist ist ungebrochen.

Müllers Rechtsvertreter Daniel Meier will beim Kantonsspital Frauenfeld Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche geltend machen. Warum wurde Müller damals nicht therapiert? Warum wurde sie nicht richtig instruiert? Warum wurde sie nicht in eine Reha geschickt, wie das gemäss ihrem OP-Arzt Standard gewesen wäre? Meier kann sich vorstellen, dass sich das Spital auf aussergerichtliche Verhandlungen einlässt und sich bei Barbara Müller entschuldigt. «Das würde ihr wahrscheinlich am meisten helfen», sagt der Rechtsvertreter.

«Wie hätte ich als frisch operierte Patientin wissen sollen, was mir zugestanden hätte?»

 

Barbara Müller, Geologin

Eine Einigung ist allerdings unwahrscheinlich. «Wir können mit bestem Willen keinen realistischen Zusammenhang zwischen ihrem heutigen Gesundheitszustand und dem damaligen Spitalaufenthalt erkennen», sagt Marc Kohler, Chef der Spital Thurgau AG, zu der das Kantonsspital Frauenfeld gehört. Barbara Müller habe damals Vorgehensweise und Behandlung nicht kritisiert. «Sie hat auf einen raschen Austritt gedrängt.» Zudem sei sie in den Jahren nach dem Vorfall ja sehr leistungsfähig und mehrfach für Trekkings in Nepal gewesen. Dass sie dafür fit genug sei, habe sie sich sechs Monate nach der Operation explizit durch die Kardiologen des Spitals bestätigen lassen.

Müller sagt: «Wie hätte ich denn als frisch operierte Patientin wissen sollen, was mir zugestanden hätte? Ich wusste doch gar nicht, dass eine Reha normal gewesen wäre. Ich habe den medizinischen Fachleuten vertraut – im Rückblick ein bitterer Fehler.»

Vage Antworten auf kritische Fragen

Aber: Wie kann es sein, dass Müller in der Schweiz bloss 30 Minuten sitzen oder stehen kann, in Nepal aber die kühnsten Abenteuer bewältigt? Wie schafft es eine stark sehbehinderte Person, eine IV-Rentnerin, sich wochenlang auf einer Expedition auf einer Höhe zwischen 4000 bis 6000 Metern zu bewegen – in unwegsamem Gelände? Reissende Bäche zu überqueren und bis zu 1000 Höhenmeter täglich zu überwinden, wie Müller es diesen Sommer tat?

Die Antworten bleiben vage. «Sie ist eine Kämpferin, total stur. Was sie sich in den Kopf setzt, das macht sie», sagt ihr Freund, der sie nach Nepal begleitet hat. Zäh wie ein Katze. «Ich habe Berge bestiegen, seit ich denken kann», sagt Müller. In der Schweiz etwa das Finsteraarhorn, einen der schwierigeren Viertausender-Gipfel.

Wo sie wegen ihrer Sehbehinderung nicht weiterkomme, helfe ihr in Nepal ein Sherpa. Zudem seien ihre Beschwerden in Nepal viel weniger schlimm als daheim im Thurgau.

«Bewegung tut mir gut, deshalb geht es mir dort auch so gut, weil ich den ganzen Tag auf den Beinen bin.» Aber sie könnte sich ja auch daheim mehr bewegen? «Wo finde ich denn einen Arbeitgeber, der mich jeweils nach 30 Minuten eine Stunde trainieren lässt? Und danach duschen, bevor ich dann wieder an den Computer kann?»

Müller fährt die Krallen aus: «Bei mir ist es ähnlich wie bei Roger Federer. Der ist zwar ein Weltklasse-Tennisspieler, aber wegen seines Rückenleidens nicht militärdiensttauglich.»

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