Das erste Mal tauchten die winzigen Passagiere im Leben von Lukas Glück, Mira Berger und ihrer gemeinsamen Tochter Aita während der Sommerferien auf: In Italien entdeckte der 40-jährige Biologe, der wie seine Familie in Wirklichkeit anders heisst, bei seiner 16 Monate alten Tochter ein paar Pickel am Ärmchen. «Wir dachten, es seien Hitzepickel, und schenkten dem keine grosse Beachtung», sagt Glück.

Erst vier Wochen später wird sich herausstellen: Die Kleine hat Sarcoptes scabiei, umgangssprachlich Krätze genannt. Eine stark juckende, hochansteckende Krankheit. Den Weg unter Aitas Haut gegraben hatten sich die Milben, die unter dem Mikroskop einer Schildkröte ähneln, schon lange vorher. Vermutlich kam das Mädchen irgendwann im Juni mit Krätze in Berührung. In der Regel dauert es zwei bis fünf Wochen, bis man eine Ansteckung bemerkt.

Krätze nicht erkannt

Weil die Kinderärztin bei Aita zuerst irrtümlicherweise eine Allergie diagnostiziert, schicken die Eltern die Kleine weiter in die Kita – und die nicht mal einen halben Millimeter grossen Tiere aus der Gattung der Spinnen machen sich weiter breit. Als die Allergiebehandlung nicht anschlägt, findet die Ärztin zwei Wochen später die richtige Diagnose. Doch da haben sich sowohl Mutter Mira als auch Vater Lukas angesteckt, zudem mehrere Personen in der Kita. «Ich bin sehr erstaunt, dass die Kinderärztin die Krankheit zuerst nicht erkannt hat», sagt Glück.

Offenbar ist die ärztliche Fehldiagnose kein Einzelfall. Dem Beobachter ist ein weiterer Fall bekannt, in dem der Kinderarzt bei einem Kleinkind die Krätze nicht erkannt und das Kind deshalb in der Kita weitere Personen angesteckt hat. Frage an die Fachvereinigung Pädiatrie Schweiz: Sind Kinderärztinnen und Kinderärzte möglicherweise noch zu wenig sensibilisiert auf die häufiger auftretende Krankheit?

Philipp Jenny, Präsident von Pädiatrie Schweiz, schreibt, in der Ausbildung lernten Kinderärztinnen diverse Hautkrankheiten Hautkrankheiten Wenns juckt kennen. «Eine Kinderärztin muss bei der Beurteilung aber an sehr viele mögliche Hautkrankheiten denken.» Krätze sei manchmal schwierig zu diagnostizieren, weil sie oft mit Ekzemen und eitrigen Hautinfektionen überlagert sei. 

Eine Sensibilisierungskampagne hält Jenny nicht für notwendig. An Fortbildungen seien Hautkrankheiten ohnehin immer wieder Thema, die Experten würden meist auf aktuell häufige Probleme eingehen. «Wieso man zusätzlich einer einzigen Krankheit besonders viel Gewicht geben soll, ist für mich nicht ersichtlich.» Und da die Krätze in der Schweiz nicht meldepflichtig ist, wisse niemand so genau, wie viele Krankheitsfälle es jährlich gebe. 

Krätze in Kita in der Schweiz nicht meldepflichtig

In Deutschland müssen Krankheitsfälle in Gemeinschaftseinrichtungen wie einer Kita, einem Pflege- oder Flüchtlingsheim an das jeweilige Kreisgesundheitsamt gemeldet werden. Deshalb weiss man aus diversen Regionen, dass es im ersten Halbjahr 2023 deutlich mehr Fälle gab als im gesamten Vorjahr.

Daher liegt die Vermutung nahe, dass es auch in Schweizer Kitas vermehrt zu Infektionen kommt. Denn diese passieren häufig an Orten, wo Menschen Körperkontakt haben oder mit den gleichen Decken oder Teppichen in Berührung kommen oder auch Kuscheltiere gemeinsam genutzt werden. Ebenfalls bekannt ist, dass es in Asylunterkünften Anfang Jahr mehr Krätzefälle gab. Das weiss man, da die Zentrumsleitung Infektionen dem Staatssekretariat für Migration (SEM) melden muss.

Aitas Kita handelt nach der Diagnose umgehend. Sie wäscht alle Textilien und empfiehlt in Absprache mit dem Kantonsärztlichen Dienst Zürich allen Kindern aus Aitas Gruppe, sich mit einem Anti-Milben-Mittel zu behandeln. Weil bei Aita die Behandlung nicht richtig anschlägt, darf das Mädchen wochenlang nicht in die Kita. Und weil eine einfache Berührung oder der Kontakt über ein Plüschtier schon reicht, um sich anzustecken, ist die Familie seit mehreren Wochen in kompletter Isolation. 

Genaue Handlungsanweisungen fehlen

Im zweiten Fall, der sich ebenfalls im Kanton Zürich zugetragen hat, handelte der Kantonsärztliche Dienst nicht sofort, wie Dokumente belegen. Er teilte der Kita-Leiterin mit, dass bei nur einem bestätigten Fall keine weiteren Massnahmen notwendig seien. Die Behandlung sämtlicher Kita-Kinder und Kontaktpersonen wurde darum erst angeordnet, nachdem bei einem zweiten Kind Krätze diagnostiziert wurde. Warum?

Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürichs betont zwar, dass sämtliche Kontaktpersonen behandelt werden sollen. Das Merkblatt, das die Gesundheitsdirektion an Ärzte, Kitas und Schulen geschickt hat, gibt aber keine genauen Handlungsanweisungen, ob dies schon ab dem ersten bestätigten Fall passieren soll. 

Schweizweit hat sich auch die Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte Schweiz (VKS) mit dem Thema beschäftigt und Empfehlungen für den schulischen Bereich ausgearbeitet, wie Tobias Bär, Sprecher der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz, sagt. Die Richtlinie gilt für Kitas, Schulen und Heime. «In den Empfehlungen der VKS wird festgehalten, dass bei einer Häufung der Fälle eine Meldung an den Kantonsarzt erforderlich ist», sagt Bär. 

Ärzte wollen Kontaktpersonen nicht behandeln

Ihre Kita habe vorbildlich gehandelt, findet Biologe Glück. Er bemängelt aber, dass die Verantwortung an die Institutionen abgegeben und nirgends erfasst wird, wie viele Fälle es gibt. 

Erstaunt ist Glück über die Rückmeldungen, die einige Elternpaare von den Kinderärzten erhielten. Trotz mehrerer Erkrankter und Anweisung des Kantonsärztlichen Dienstes hätten die ihnen gesagt, dass keine Behandlung notwendig sei, solange keine Symptome auftreten. «Das ist fahrlässig, wenn man weiss, dass die Inkubationszeit lang und die Krankheit hochansteckend ist.»
 

Krätze: Das sind die Symptome

Eine Ansteckung mit Krätze macht sich oft durch starken Juckreiz, ein Brennen auf der Haut oder auch Blasen, Knötchen oder Ekzeme und Kratzwunden auf der Haut bemerkbar. Der Juckreiz tritt besonders in der Nacht auf. Betroffene Hautregionen sind vor allem Zwischenräume von Fingern und Zehen, Handgelenke, Knöchel, Ellbogen, Achseln, Brustwarzen und Genitalien. Bei Kindern können auch Kopf und Gesicht betroffen sein. Eine Ansteckung erfolgt meist über direkten Hautkontakt, vereinzelt reicht aber auch ein Kontakt mit einem unbelebten Stoff, der zuvor von einer infizierten Person berührt wurde. 

Wie wird Krätze behandelt?

Bei Kindern und Schwangeren wird eine Insektizidcreme am ganzen Körper aufgetragen (Permethrin 5%). Bei Erwachsenen empfiehlt der Bund in seinem Asylhandbuch eine Behandlung mit dem Anti-Parasiten-Medikament Ivermectin. Wichtig ist, dass nicht nur die erkrankte Person behandelt wird, sondern auch alle Personen, die in engem Kontakt standen. Gleichzeitig muss man sämtliche Kleidung, Bettwäsche und alle waschbaren Textilien, mit denen die Person in Kontakt gekommen ist, bei mindestens 60 Grad waschen. Sofas müssen gründlich abgesaugt werden, nicht waschbare Textilien oder Schuhe in dichte Plastikbeutel verpackt und für zwölf Stunden tiefgekühlt werden.