Im Kleinen beginnt das Grosse. Aus einem Samenkorn wird eine Tanne, wenn alles gut geht. Und wenn alles schlecht geht, entwickelt sich aus einem Bad am Sonntag ein zunehmend gereizter Briefwechsel über den Wert familiärer Pflege. Wie bei Ursula Küng aus Ittigen bei Bern.

Die Hand des Besuchers bleibt ungedrückt. Frau Küng kann nur noch den Kopf bewegen. «Nimmst du mir die Brille ab?», bittet sie ihren Sohn. Sie hat multiple Sklerose (MS), eine Krankheit der Nerven, die einen Muskel nach dem andern lahmlegt. MS zwingt den Menschen früher oder später in den Rollstuhl. Erst werden Glieder taub, dann verliert er schubweise die Kontrolle über den Körper. Er spürt nichts mehr, auch keinen Schmerz.

Viele Jahre ging alles gut

«Reden, kauen und schlucken kann meine Mutter noch selber», sagt der Sohn. Für alles andere braucht sie Hilfe. Die leistet vor allem ihr Mann. Tag und Nacht. Seit 18 Jahren. Von Montag bis Freitag schaut eine Pflegerin der Spitex vorbei – für die medizinische Versorgung und die Körperhygiene. Sonntag ist Badetag. Dann lässt der Sohn die Wanne ein und wäscht seine Mutter.

Versichert ist Familie Küng halbprivat bei der Helsana. Die übernahm die Kosten für die Spitex. Ehemann und Sohn arbeiteten gratis. Das ging viele Jahre gut.

Die Harmonie endet abrupt

Dann machte der Sohn die Ausbildung zum Pflegefachmann, Ende Oktober 2014 bewilligte ihm der Kanton Bern, selbständig in diesem Beruf zu arbeiten. Von da an verrechnete der Sohn der Helsana das sonntägliche Bad. Die Kasse überwies ihm 960 Franken im Monat – oder mehr, wenn fünf Sonntage auf denselben Monat fielen.

Als sich der Vater 2015 eine Woche lang erholte, schaute der Sohn zur Mutter. Kaum hatte die Helsana die Rechnung dafür auf dem Tisch, schickte sie zwei Kontrolleure vorbei, die Mutter und Sohn mit der Stoppuhr folgten. Offenbar war alles in Ordnung. Die Helsana zahlte weiter, allerdings «aus Kulanz», schreibt sie dem Beobachter.

Zwei Jahre später ging der Vater erneut in die Ferien, und der Sohn schaute fünf Tage lang zur Mutter. Kaum hatte er die Rechnung eingereicht, sprachen erneut zwei Helsana-Kontrolleure vor. Diesmal fanden sie, das Bad «rechtfertigt die verrichteten vier Stunden Pflege nicht».

«Ich bin mir noch nie im Leben so gedemütigt vorgekommen.»

MS-Patientin Ursula Küng

Der Sohn wundert sich. «Wie kann das sein, dass die einen Kontrolleure sagen, vier Stunden seien in Ordnung, die andern aber, es müsse auch in einer Stunde und 45 Minuten möglich sein?» Die bewegungsunfähige Mutter sagt, die Kontrolleurin habe beim Baden zugeschaut, «bis es ihr zu warm wurde». Sie sei sich «noch nie im Leben so gedemütigt vorgekommen».

Protokolle der Hilflosigkeit

Die Helsana schreibt, die Kontrolleurin sei während des Bads «nicht dauernd anwesend» gewesen. «Zur Beurteilung des Transfers und des Bads als Pflegehandlung blickte sie zwischendurch ins Badezimmer, hat jedoch vor Eintritt angeklopft.» 

Die Antwort auf die fünf Fragen des Beobachters füllt vier Seiten und ist gespickt mit Hinweisen auf Gesetzesartikel, Verordnungen und Handbücher. Der Sohn wiederum legte dem Beobachter seitenweise Tabellen mit geforderten Abrechnungen erfasster Handgriffe vor.

Beides sind Protokolle der Hilflosigkeit. Jede medizinische Notwendigkeit und jeder Funken Menschlichkeit wird in Minuten gefasst und damit in Geld. Denn alles muss «wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich» sein. So verlangt es das Gesetz. Und es verwandelt damit ein wohltuendes Bad für eine schwerstkranke Frau in ein Bad in Säure.

Filmtipp: Multiple Schicksale

Ein Film über sieben Menschen, die mit MS leben. Der junge Filmemacher Jann Kessler zeigt darin auf, mit welchen Herausforderungen und Einschränkungen MS Betroffene täglich zu kämpfen haben. 

Ein Heim wäre mehrfach teurer

«Klar, ich würde meiner Mutter auch weiterhin helfen, gratis. Wie mein Vater und ich das jahrzehntelang getan haben», versichert der Sohn. «Die familiäre Beziehung ist unerheblich», schreibt die Helsana. Sie sieht aber dennoch eine Schwierigkeit darin, dass der Sohn «Leistungen als Betreuer und Pfleger vermischt» und in Rechnung stellt. 

Dass die Spitex das Bad übernimmt, lehnen die Küngs ab. «Wir sind für Experimente nicht zu haben», sagt der Vater. Billiger würde es für die Helsana nicht, der Sohn verrechnet Spitex-Ansätze.

Die Küngs dürften nicht die Einzigen sein, die vom verstrüppten System der Bürokratie ständig auf die Probe gestellt werden. In der Schweiz gibt es 10'000 Menschen mit multipler Sklerose. Und ein Mehrfaches an Angehörigen, die ihnen jahrzehntelang zur Seite stehen. Tag und Nacht. 

Es ist ein Glücksfall, dass Ursula Küng von ihren Angehörigen zu Hause umsorgt wird, sowohl vom Menschlichen wie vom Finanziellen her. Ein Heim würde der 71-Jährigen für Kost, Logis und Pflege jeden Monat 10'000 Franken verrechnen.

Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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