Was geschah genau in jener Nacht im Jahr 2006? Unbestritten ist: Eine Spenderleber stehe zur Verfügung, meldete damals ein Spital in der Südschweiz dem nationalen Koordinationsnetz Swisstransplant. Um 21.45 Uhr startete am Universitätsspital Genf (HUG) der Rettungshelikopter. An Bord: das Team des HUG mit dem leitenden Arzt Thierry Berney. 

Drei Spitäler waren damals in der Lage, Lebertransplantationen Organspende-Register wird gelöscht Weniger Organspenden befürchtet – was Sie jetzt tun müssen durchzuführen: das Inselspital in Bern, das Universitätsspital Genf und das Universitätsspital Zürich (USZ). Das heute geltende Transplantationsgesetz war damals noch nicht in Kraft. Jedes Spital führte seine eigene Warteliste. Bei der Zuteilung folgten die Koordinatoren von Swisstransplant einer einfachen Regel: immer dem Alphabet nach. Zuerst wird Bern angefragt, dann Genf, dann Zürich. Nicht jedes Organ passt zu jedem Empfänger – damit eine Transplantation Aussicht auf Erfolg hat, müssen zahlreiche Körperwerte übereinstimmen.

Was in den Stunden nach der Ankunft des Genfer Teams in der Südschweiz genau passierte, ist umstritten, die Versionen der verschiedenen Beteiligten gehen diametral auseinander. Die Version des Top-Chirurgen Philippe Morel geht so: Es habe damals nach seiner Kenntnis in der ganzen Schweiz keinen Patienten gegeben, für den die Spenderleber in Frage gekommen wäre. «Die Leber kam von einem Marginal Donor.» Das sind Spender, deren Organe sich eigentlich nicht für eine Transplantation eignen, etwa weil die Personen schon sehr alt sind oder an bestimmten Krankheiten wie etwa hohem Blutdruck leiden. «Wenn es aber für einen möglichen Empfänger keine Hoffnung mehr gibt, rechtzeitig zu einem anderen Spenderorgan Transplantation 8 Behauptungen zu Organspenden im Check zu kommen, es also um Leben und Tod geht, kann eine Verpflanzung trotzdem riskiert werden.»

Ernsthafte Zweifel an der Version des Top-Chirurgen

Genau diese Situation habe damals vorgelegen: Nur der Patient aus den Vereinigten Arabischen Emiraten im HUG sei als Empfänger in Frage gekommen. Dieser habe unter schweren Leberschäden und einer Hepatitis gelitten. Darum benötigte er dringend eine Spenderleber. Weder Bern noch Zürich hätten Interesse an der Leber geäussert. Aus diesem Grund hätte sich das Genfer Explantationsteam auf den Weg gemacht. «Ich habe mit Zürich telefoniert, um Gewissheit zu haben, dass sie die Leber nicht wollen.»

Doch an dieser Darstellung weckt ein Bericht des welschen Online-Portals «Heidi News» ernsthafte Zweifel. Dokumente, die inzwischen online zugänglich sind, sowie Zeugen erzählen eine ganz andere Geschichte. Doch dazu später. 

Der 70-jährige Morel – das würden auch seine Gegner nicht abstreiten – ist eine Ausnahmeerscheinung. Die «Tribune de Genève» nannte ihn den «Bulldozer-Chirurgen» – und das war nicht abschätzig gemeint. Die Zeitung spielte damit auf die ungeheure Schaffenskraft des Genfer Arztes an, der von sich sagt, er arbeite bis zu 100 Stunden in der Woche. Auf seiner Website beschreibt er sich als «hervorragenden Chirurgen», als Visionär und engagierten Mann, der sich für zahlreiche humanitäre medizinische Missionen einsetze. Mehrere Hundert Organe hat er in seiner Karriere verpflanzt, im Militär stieg er bis zum Oberst auf, im hektischen Genfer Strassenverkehr sieht man ihn in einem gelben US-Hummer herumfahren. 

Warum wird der Skandal gerade jetzt publik?

Am kommenden Wochenende stellt sich der Arzt als Krönung seiner Karriere zur Wahl als Genfer Staatsrat, der Exekutive des Kantons Genf. Doch ausgerechnet der Skandal könnte ihm nun in die Quere kommen. Hinzu kommt, dass die öffentliche Debatte um die lange zurückliegende Organentnahme der Transplantationsmedizin einen schweren Schaden zufügen könnte. Morel weiss das. Er sagt: «Das bekümmert mich am meisten.» 

17 Jahre lang wusste nur ein kleiner Personenkreis von den damaligen Vorkommnissen. Nun, zwei Wochen vor den Wahlen, werden sie publik. Ist das Zufall? Versucht jemand, Morel zu schaden? Oder hat er sich in jener Nacht im Jahr 2006 tatsächlich falsch verhalten? 

Diesen Vorwurf erhebt «Heidi News». Zentrale Behauptung des jungen Online-Magazins: Es habe damals sehr wohl einen Schweizer Patienten gegeben, der als Empfänger für die Leber in Frage gekommen wäre. Betreut wurde er von einem Zürcher Chirurgen des Universitätsspitals. Der Arzt meldete sich in jener Nacht telefonisch bei Thierry Berney. «Der Zürcher Chirurg wollte mich sprechen, um zu erfahren, ob die Leber transplantierbar sei. Ich bejahte dies. Daraufhin sagte er mir, dass er diese Leber für einen seiner Patienten wolle, der auf der Warteliste stehe und sich in einem kritischen Zustand befinde», sagt Berney. Klar ist: Einer von beiden, Philippe Morel oder Berney, sagt nicht die Wahrheit. Wer diese Frage klären könnte, ist der Zürcher Arzt. Doch der schweigt. 

Zürcher Chirurg zeigte sich «angewidert»

Unbestritten ist, dass die Sache damals am HUG viel Staub aufwirbelte. Das bestätigen dem Beobachter mehrere Quellen. Fest steht auch, dass Swisstransplant den Vorfall Wirbel um Spenderorgan «Der Fall schadet jenen, die dringend ein Organ brauchen» wenig später durch eine Ombudsstelle prüfen liess. Befragt wurde dabei auch der Zürcher Chirurg. Dieser habe sich «angewidert» gezeigt von der Art und Weise, wie Philippe Morel gehandelt habe. So steht es im Bericht der Ombudsstelle. 

Ein weiterer Arzt, der damals am HUG war, ist Pietro Majno. Er ist heute Chefarzt der chirurgischen Klinik des Krankenhauses in Lugano. Laut dem von «Heidi News» veröffentlichten Koordinationsprotokoll riet Majno Morel von der Verwendung dieses Organs für die Transplantation bei dem Emirati ab. Er schlug stattdessen einen anderen Patienten am HUG vor, der nach seiner Einschätzung als Empfänger besser geeignet sei, falls Zürich die Leber ablehnen würde. Vom Beobachter kontaktiert, verweist Majno auf das Amtsgeheimnis. Er könne deshalb zum Fall nichts sagen. 

Morel also, so das Fazit, soll eigenmächtig das Anrecht des Zürcher Patienten ignoriert und sich auch über den Ratschlag seines ärztlichen Kollegen Pietro Majno hinweggesetzt haben. Um 4.45 Uhr, so steht es im Protokoll, begann er mit der Operation. Sie verlief erfolgreich. Die Transplantation bescherte dem vormalig todkranken Patienten 15 zusätzliche Lebensjahre. Der Zürcher Patient hingegen starb kurz nach diesen Vorgängen. 

Der Fall wirft viele Fragen auf. Eine der dringlichsten: Warum werden die Vorkommnisse gerade jetzt, 17 Jahre später, publik? Gibt es einen Zusammenhang zu den Genfer Staatsratswahlen vom kommenden Wochenende? 

Ein ärztlicher Kollege, der Morel zu Hilfe eilt, hat da seine eigene Theorie. Die Quelle möchte namentlich nicht genannt werden. Sie interpretiert die aktuellen Ereignisse vor dem Hintergrund einer Affäre, die im Jahr 2016 passierte. Es geht um Thierry Berney, der die Leber entnahm. 

Fragwürdige Forschungen im HUG-Labor

Zum Zeitpunkt der strittigen Transplantation leitender Arzt, stieg Berney später kontinuierlich die Karriereleiter hoch, bis zur Chefarztposition an der HUG-Klinik für Viszeralchirurgie. Vergangenes Jahr wurde er pensioniert. Seine Karriere verlief nicht ohne Misstöne. 2016 war er in einen Skandal verwickelt. «Le Matin Dimanche» enthüllte in einem Aufsehen erregenden Artikel, das Forschungslabor des HUG habe über eine amerikanische Stiftung menschliches Gewebe nach ganz Europa verkauft. Die Affäre beschäftigte die Genfer Gesundheitsdirektion. Der damalige Gesundheitsdirektor entschied in einer Dringlichkeitssitzung, dass die Forschungsaktivitäten sofort einzustellen seien. Ausserdem wurde ein Audit angeordnet. Geleitet wurde das strittige Labor von Thierry Berney. 

Aufgeflogen war die Sache, weil jemand Swisstransplant einen Tipp gegeben hatte. Dieser jemand war niemand anderes als – Philippe Morel. «Die aktuellen Leaks müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Es handelt sich um eine Racheaktion. Es gibt Kreise, die Morel schaden wollen», sagt die Quelle.

Die Staatsanwaltschaft begann in Zusammenhang mit den fragwürdigen Aktivitäten im Forschungslabor zu ermitteln. Nach drei Jahren stellte der Genfer Generalstaatsanwalt Olivier Jornot die Ermittlungen ein. Doch der Entscheid sorgte weitherum für Kopfschütteln. «Ich war – gelinde gesagt – erstaunt, als ich diese Entscheidung las», liess sich Camille Perrier Depeursinge, Professorin für Strafrecht an der Universität Lausanne, damals zitieren. Nach einer ersten Lesung der Anklageschrift und ohne Akteneinsicht sei ihr eine Verurteilung von Berney nicht ausgeschlossen erschienen, eine Anklage möglicherweise gerechtfertigt. Berney sagt zu den Vorgängen: «Mit der ‹Heidi News›-Geschichte habe ich nichts zu tun. Was das Labor betrifft, so wurde ich strafrechtlich freigesprochen.» 

Das HUG und das Zürcher Unispital wollten zu den Vorgängen keine Stellung nehmen. Philippe Morel hat eine Strafanzeige gegen Unbekannt eingereicht. Der Chefredaktor von «Heidi News» gibt sich unbeeindruckt. «Wir haben Dokumente sowie zahlreiche und übereinstimmende Quellen. Seitdem wir den Fall aufgedeckt haben, haben uns mehrere Personen kontaktiert, die den Fall noch solider machen. Ich sehe den Anhörungen vor Gericht gelassen entgegen», sagt Serge Michel.