Frage: «Ich mache mir Sorgen um meinen Sohn. Er trinkt viel zu viel. Dabei hatte doch sein Vater ein schweres Alkoholproblem.» 

Antwort von Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie Präsident von Pro Mente Sana: 

Ich kann Ihre Sorgen und Ihre Not gut nachvollziehen. Wahrscheinlich haben Sie ja beim Vater Ihres Sohnes eng miterlebt, wie gravierend ein Alkoholproblem sein kann und was alles kaputtgeht – bei der betroffenen Person selbst, aber auch beim Umfeld. Zudem wird über diese Folgen immer noch sehr wenig gesprochen. Und eigentlich auch sehr wenig geforscht. 

Über Suchtprobleme weiss man immer noch relativ wenig. Dabei zeigen neuere Daten aus den USA, dass Suchterkrankungen die Gesellschaft heute doppelt so viel kosten wie Krebs. Eigentlich erschreckend. In die Krebsforschung werden zu Recht Milliardenbeträge investiert. Es wäre schön, wenn es bei Suchterkrankungen auch so wäre.

Die Rolle der Gene

Ein einzelnes Gen, das eine Alkoholabhängigkeit verursacht, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich beeinflussen aber mehrere Gene das Risiko für eine Alkoholabhängigkeit, der Anteil der Genetik liegt zwischen 50 und 60 Prozent. Bei der Kokainabhängigkeit scheint der Anteil etwa zehn Prozent höher zu sein, bei anderen Suchtproblemen wie Stimulanzien zehn Prozent tiefer.

Die Genetik ist nichts Isoliertes, sie ist immer nur Teil eines Puzzles. Mit anderen Worten: Es geht nicht um eine Entweder-oder-Frage, ob also eine Alkoholproblematik durch Gene ausgelöst wurde oder durch die Biografie, die Persönlichkeit oder vielleicht durch eine Depression. Meist sind mehrere Faktoren beteiligt. 

Es ist auch eine Frage des Alters

Gene bestimmen eher, auf welche Art und Weise wir verwundbar sind. Wenn wir die Stelle verlieren und gleichzeitig eine Partnerschaft zu Ende geht, besteht bei der einen Person das Risiko, dass der Alkoholkonsum zunimmt und daraus eine Problematik entsteht. Bei einer anderen Person entwickelt sich vielleicht eine Depression, und bei einer dritten wird das Immunsystem geschwächt, und es folgt eine körperliche Erkrankung. 

Unterschiede scheint es auch über die Lebensspanne hinweg zu geben. Die Genetik bestimmt den Verlauf einer Alkoholproblematik eher mit zunehmendem Alter. In jüngeren Jahren scheinen Beziehungs- und Persönlichkeitsfaktoren wichtiger zu sein: das familiäre Umfeld, der Freundeskreis sowie der Selbstwert und die Selbstwirksamkeit.

«Konnte Ihr Sohn je mit jemandem über negative Erfahrungen mit dem alkoholkranken Vater reden?»

Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie Präsident von Pro Mente Sana

Was heisst das nun für den Umgang Ihres Sohnes mit Alkohol?
  • Investieren Sie als Mutter mehr in das, was Ihren Sohn stärkt. Das ist sehr schwierig. Instinktiv möchten Sie ihn einfach wachrütteln, wenn er wieder zu viel getrunken hat – und ihn daran erinnern, dass er seinem Vater direkt in dessen Fussstapfen folgt. Das funktioniert leider nicht. Im Gegenteil: Es birgt das Risiko, dass Sie die Beziehung respektive den Draht zu ihm verlieren. Und dieser Draht ist das, was ihn am meisten stützt. Ideal ist es, wenn mehrere Menschen einen guten Draht zu ihm haben – der Onkel, der Lehrmeister, Kollegen, die Freundin, ein Verein.
  • Vielleicht hat auch Ihr Sohn Negatives mit dem alkoholsüchtigen Vater erlebt. Konnte er darüber je mit jemandem sprechen? Kinder haben oft klare Erinnerungen an prägende Erlebnisse. Die Angst, wenn der Vater betrunken war, wütend und unberechenbar. Die Beschämung, als er alkoholisiert am Kindergeburtstag nach Hause kam und alle Kinder plötzlich heimgehen mussten. Und schliesslich der Kontaktverlust zum Vater. Hier ist es oft einfacher, wenn eine nicht ganz so nahestehende Person das mit einem bespricht. Eben vielleicht der Onkel.
  • Es kann auch helfen, wenn Sie den Sohn bitten, mit Ihnen zusammen einmalig eine Fachperson aufzusuchen, um eben genau solche Fragen anzuschauen. Er wird sich ja die genau gleiche Frage auch stellen. Auch er fragt sich, ob es vielleicht «vorbestimmt» ist, dass er wie sein Vater alkoholabhängig wird. Anlaufstelle kann eine Alkoholfachstelle sein oder die Hausärztin, die den Vater auch kannte. Vielleicht entscheidet sich der Sohn dann von sich aus, dort gleich mehrere Termine wahrzunehmen.
  • Wichtig ist auch eine gute Unterstützung für Sie selbst. Denn auch bei Ihnen ist ja über die Jahre vieles kaputtgegangen, und ein Teil der Wunden konnte bestimmt nur begrenzt verheilen. Zudem sind Sie alleinerziehend, tragen die ganze Verantwortung auf Ihren Schultern. Unterstützung tut uns allen gut. Helfen könnte eine gute Freundin, der Onkel des Sohns, die Hausärztin, eine Psychologin oder die Angehörigenberatung einer Alkoholfachstelle.
Alkoholsucht: Hier finden Sie Hilfe
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«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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