Warum muss immer die Frau dran denken?
Meist organisiert die Frau den Alltag von Paaren und Familien. Männer können aber durchaus lernen, wie das geht.
Veröffentlicht am 16. November 2024 - 06:00 Uhr
Was müssen wir morgen noch einkaufen? Wo sind die Pässe der Familie? Was schenken wir der Schwiegermutter? Wann hat das Kind seinen Impftermin? All diese Fragen bilden eine mentale Last – die überall mit dabei ist. Bei der Arbeit, im Alltag, im Familienleben. Unsichtbar und oft unbewusst sitzt sie in unseren Köpfen, von morgens bis abends.
Es ist der ständige Koordinationsstress im Alltag – das Daran-Denken, Planen, Organisieren und Terminieren von Aufgaben, bevor sie überhaupt anstehen. Dieser Stress wird in Partnerschaften oft übersehen und wenig wertgeschätzt. Und nach wie vor nimmt ihn meist die Frau auf sich – insbesondere wenn Kinder dazukommen.
Rollenaufteilung von klein auf eingeübt
Das hat verschiedene Gründe. Einerseits spielen Vorbilder in der Familie und der Gesellschaft eine Rolle. Anderseits wirken die stereotypen Rollenerwartungen, mit denen Mädchen aufwachsen und die durch Kleidung, Geschichten und Spielzeuge weitergegeben und vorgelebt werden.
«Mädchen werden von klein auf zur Care-Arbeit herangezogen und sind daher im Erwachsenenalter bereits sehr geübt, diese Tätigkeiten auszuführen», sagt Jo Lücke. Die Autorin und politische Bildnerin beschäftigt sich mit Care-Arbeit und hat den ersten Mental-Load-Test für Paare konzipiert. Zur Care-Arbeit, also der unbezahlten Sorgearbeit, gehört auch der Mental Load.
Die Kluft zwischen den Geschlechtern
Weil Frauen einen Wissensvorsprung und mehr Verantwortungsgefühl haben, verrichten sie mehr Sorgearbeit. Das nennt sich Gender-Care-Gap. «Auch strukturelle Bedingungen fördern die ungleiche Verteilung», sagt Lücke. In diese Falle tappen selbst aufgeklärte Paare – spätestens, wenn sie Kinder bekommen.
«Den Männern fehlt es meist nicht an Motivation – sondern an Kompetenz.»
Damaris Bickel, Psychotherapeutin
Das erlebt die Zürcher Psychotherapeutin Damaris Bickel oft in ihrem Sprechzimmer. Den Begriff Mental Load nennen zwar nicht alle Patientinnen und Patienten. «Doch das Thema beschäftigt die meisten Paare.» Und: Die ungleiche Verteilung der mentalen Last ist zwar ein Geschlechterthema – doch sie ist auch bei homosexuellen Paaren präsent. Auch dort übernimmt eine Person automatisch mehr Verantwortung.
Verletzte Frauen, verunsicherte Männer
Bickel beobachtet immer wieder dieselben Dynamiken. Häufig ist die Frau unzufrieden und fühlt sich verletzt, weil sie zu Hause den grössten Teil des Mental Load trägt, dies aber nicht wertgeschätzt oder überhaupt wahrgenommen wird. Sie wirft ihrem Mann vor, er sei nicht motiviert – auch wenn er sich noch so sehr bemüht. Das ist frustrierend für ihn, er zieht sich in eine Abwehrhaltung zurück.
In dieser Situation versucht die Psychologin, die Partner von den gegenseitigen Anschuldigungen wegzubringen und die Anteile beider Seiten anzuschauen.
Den Teufelskreis durchbrechen
«Den Männern fehlt es meist nicht an Motivation – sondern an Kompetenz», so Damaris Bickel. Ihnen fehlten der Blick für die mentale Arbeit und die Übung darin.
Das wiederum unterschätzen Frauen oft, weil sie diese Fähigkeiten schon durch ihre Sozialisation mitbringen. Und sie haben das Gefühl, dass die Ungleichheit nie mehr ausgeglichen werden kann, da sie bereits viel mehr geleistet haben. Dieses Muster, diesen Teufelskreis müssen Paare erkennen. «Sonst bleiben verletzte Frauen und verunsicherte Männer zurück», sagt die Psychologin.
Wer ist denn nun verantwortlich?
Es hilft nichts, sich in seine Opferposition zu verbeissen. «Verändern kann sich nur etwas, wenn beide Seiten die Position des anderen anerkennen und sich gegenseitig entgegenkommen», sagt Bickel. Dabei müssen Frauen lernen, die Verantwortung abzugeben und darauf zu vertrauen, dass es der Mann zwar anders, aber dennoch gut macht. Und Männer müssen den Mut aufbringen, neue Aufgaben zu übernehmen – trotz fehlender Routine.
«Es liegt an den Männern, proaktiv zu zeigen, dass sie willens und in der Lage sind, Sorgeverantwortung zu tragen und ihre Sache gut zu erledigen.»
Jo Lücke, Autorin und politische Bildnerin
Jo Lücke sieht die Verantwortung vor allem bei den Männern. «Es liegt an ihnen, proaktiv zu zeigen, dass sie willens und in der Lage sind, Sorgeverantwortung zu tragen und ihre Sache gut zu erledigen. Dann fällt es Frauen leichter, Aufgaben abzugeben.» Dabei helfe es, sich zunächst ausführlich über das Wie zu verständigen und einen Kompromiss zu finden. Insbesondere dann, wenn beide unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wann eine Aufgabe gut erledigt ist.
Nicht nur zu Hause
Mental Load ist nicht nur auf das Paar- und Familienleben beschränkt, sondern auch fester Bestandteil im Arbeitsalltag oder in der Ausbildung. Sich an Geburtstage erinnern, Karten organisieren und schreiben oder die Spülmaschine starten und ausräumen etwa. «Wer im Privaten unter Mental Load leidet, ist anfälliger, diese Arbeit auch in anderen sozialen Konstellationen zu übernehmen», sagt Psychologin Bickel. Solche Menschen gehen oft über ihre Grenzen hinaus und haben ein grösseres Risiko, ein Burn-out zu erleiden.
Deshalb ist es wichtig, sich des geleisteten Mental Load bewusst zu werden, sich mit dem Partner oder dem Arbeitsumfeld auszutauschen und den Stress schliesslich einzudämmen. Damit aus dem Teufelskreis irgendwann eine Aufwärtsspirale wird.
- Ziel besprechen: Geht es darum, Mental Load abzugeben und gerechter aufzuteilen, oder braucht es einfach mehr Wertschätzung? «Es gibt Frauen, die die Verantwortung gar nicht abgeben möchten – es kommt ganz auf das jeweilige Rollenverständnis der Betroffenen an», sagt Psychologin Damaris Bickel. So oder so ist es wichtig, die Arbeit des Gegenübers anzuerkennen und wertzuschätzen, unabhängig, ob bei bezahlter Arbeit oder unbezahlter Care-Arbeit.
- Aufgaben aufschreiben: In einem ersten Schritt können beide Seiten die geleistete Arbeit festhalten. Dazu gehören ebenso Gedanken zur Beziehung, zur Lösung von Problemen und zum emotionalen und körperlichen Wohlbefinden der Familienmitglieder wie Hausarbeiten, die Alltagsorganisation und das Daran-Denken. Wer möchte, kann kostenlos den Mental-Load-Test der Autorin Jo Lücke zu Hilfe nehmen. Die Tests gibt es auch für den Arbeitsplatz und für Kinder und Jugendliche.
- Verhandeln und festhalten: Wenn man erst mal alles schwarz auf weiss sieht, versteht man die Arbeit der anderen Person besser. Und hat eine Diskussionsgrundlage. Wer hat welche Ansprüche an Sauberkeit? Wem liegt was mehr? Wer hat Lust auf welche Aufgabe? Wo ist man bereit, die eigenen Ansprüche herunterzuschrauben und die Aufgabe abzugeben? Was will man sich aneignen? Gefragt sind Kompromisse und gegenseitiges Vertrauen. Vor allem bei Paaren mit Kindern können Wochenpläne helfen: Was gibt es zu tun? «Das ist dann eine Art Vertrag, an den sich alle zu halten haben», sagt Psychologin Damaris Bickel.
- Geduld aufbringen: Veränderung braucht Zeit. Frauen müssen lernen, Verantwortung abzugeben, Männer müssen sich die neue Denkweise aneignen und einüben. Denn: Klischees und Rollenerwartungen zu verlernen, ist ein langer Prozess. «Auch wenn man sehr sensibilisiert ist, wirken Rollen und Glaubenssätze, die seit Kindertagen verinnerlicht sind, oft im Verborgenen weiter», sagt Autorin Jo Lücke.
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