Sieben Uhr – der Wecker schrillt. Augen auf, das Gedankenkarussell startet: Die Kinder müssen bereit gemacht, Brote gestrichen werden, der Geschirrspüler ist auch fertig. Übervolle Wäschekörbe stapeln sich auf dem Sofa, das Bad müsste auch wieder geputzt werden. Im Nebenzimmer kracht es, ein Kind weint. «Ich kann nicht mehr» – dabei hat der Tag noch nicht einmal begonnen. 

«Ich hatte sicher seit ein, zwei Jahren Momente, in denen mir im Alltag schwindlig wurde», sagt Sandra Müller aus Biel. Sie ist Mutter zweier Söhne im Alter von vier und sechs und leidet unter dem Mutter-Burn-out. Um ihre Familie vor Verurteilungen zu schützen, ist ihr Name geändert. «Ich habe es einfach beiseitegeschoben, weil wir Eltern ja alle mal erschöpft sind.» Der Schwindel tauchte auf und verschwand wieder, dann kamen Schlafstörungen dazu. Grübeln über Projekte mit den Kindern – bloss keinen Leerlauf zulassen. Bis zum Kollaps.

Im Arbeitsalltag ist das berufsbedingte Burn-out Work-Life-Blending Wenn Arbeit und Leben verschmelzen längst bekannt. Doch es existiert auch im familiären Umfeld: Rund fünf Prozent der Schweizer Eltern leiden unter dem «parental Burn-out» – zu Deutsch Mutter-Burn-out, da meist Frauen betroffen sind. Hinzu kommt eine grosse Dunkelziffer, denn das Burn-out geschieht schleichend – und Betroffene wie auch das Umfeld nehmen die Symptome meist erst spät ernst.

Was ist ein Mutter-Burn-out?

Beim Mutter-Burn-out handelt es sich nicht um eine eigenständige Diagnose, sondern um eine sogenannte Qualifying Diagnosis. Das bedeutet: Übergeordnet wird eine Diagnose wie Depression Psychisch kranke Eltern Mamas Schatten gestellt, das Mutter-Burn-out ist eine spezielle Form davon. «Die elterliche Erschöpfung kann ein Grund sein, warum es letztlich zu einer Depression gekommen ist», erklärt die Zürcher Psychotherapeutin Angela Häne, die sich auf die psychische Gesundheit von Frauen spezialisiert hat. Auch Väter sind wegen Burn-outs bei ihr in Behandlung, jedoch deutlich seltener.

Betroffene erleben diese Form des Burn-outs als einen körperlichen und psychischen Erschöpfungszustand, der die Freude am Elternsein beeinträchtigen und eine emotionale Distanz zur Familie aufbauen kann. Damit einher gehen oft auch Schlafstörungen , Suchterkrankungen sowie die Entfremdung vom Partner.

Ähnlich wie beim Job-Burn-out treten die Symptome oft zuerst vereinzelt auf und zeigen sich über die Zeit. «Irgendwann überwiegt einfach das Negative», sagt Angela Häne. Alles wird nur noch unter dem schweren, belastenden Aspekt gesehen.

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«Ich hatte Panikattacken mit Schwindel Panikanfälle Ein dunkles Leben mit der Angst im Nacken , musste mich übergeben und habe am ganzen Körper gezittert, wenn ich vor Aufgaben stand, die erfüllt werden mussten», erinnert sich Sandra Müller. Zum Beispiel ihren Sohn vom Turnen abholen. «Ich hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, wenn ich jetzt das Haus verlasse.» Kleine Aufgaben wurden zur riesigen Belastung – und aus Angst vor der Aufgabe wurde letztlich Angst vor der Angst.

Die Risikofaktoren

Zentral für das Mutter-Burn-out ist eine gewisse Enttäuschung über sich selbst. «Ich erlebe es häufig, dass diese Mütter mir sagen, dass sie eine andere Mama hätten sein wollen», sagt Angela Häne. Eine Mutter, die «alles im Griff» hat: Erziehung, Haushalt, Job, Partnerschaft und das eigene Äussere. Doch die Realität sieht anders aus – mit Problemen beim Stillen, trotzenden Kleinkindern und wütenden Teenies. Viele Eltern seien dann überrascht von ihren eigenen Gefühlen und ihrem Verhalten.

Der Alltag im Elternleben ist geprägt von Mental Load Warum Mental Load vor allem Frauen belastet Die Arbeit, die Männer nicht sehen , straffen Zeitplänen, langen To-do-Listen und manchmal auch Einsamkeit. Eine grosse Belastung – und dennoch: «Der grösste psychologische Risikofaktor, um ein Mutter-Burn-out zu bekommen, ist die Neigung zum Perfektionismus», sagt Psychotherapeutin Häne. Je höher die Erwartungen an das eigene Elternsein, desto grösser die mentale Belastung.

«Als ich meinen Freundinnen erzählt habe, wie es mir geht, waren viele überrascht. Sie dachten, bei mir würde alles gut laufen», erzählt Sandra Müller. Als gelernte Fachfrau Betreuung Kind habe sie einen gewissen Stresspegel immer gut bewältigen können – ja sogar gern gehabt. «In meinem Kopf konnte ich alles schaffen. Irgendwann aber hat mich mein Körper buchstäblich gezwungen, kürzerzutreten.»

Hinzu kommen weitere Faktoren, die das Risiko, auszubrennen, vergrössern: Alleinerziehende Wohnsituation, Kinder, Altersvorsorge Alleinerziehend – worauf ist rechtlich zu achten? , Eltern von Kleinkindern, mehreren Kindern oder Kindern mit besonderen Bedürfnissen sind statistisch gesehen häufiger betroffen. Und auch Schlafmangel kann eine grosse Rolle spielen. «Schlaf ist der Schlüssel zur psychischen Gesundheit», sagt Expertin Angela Häne. 

Der steinige Weg zur Selbsthilfe

Nicht immer ist eine psychotherapeutische Behandlung nötig. Wenn es sich um eine leichte Depression handelt hinter dem Burn-out-Zustand, kann es schon helfen, sich selbst mehr Zeit und Wertschätzung zu schenken. «Der erste Schritt ist die konkrete Entlastung der Mutter», erklärt Angela Häne. Der Partner oder die Partnerin kann einen grösseren Anteil an der Care-Arbeit übernehmen. Eltern, Schwiegereltern, Freundinnen oder Nachbarn können helfen. Auch Babysitter oder sogenannte Nacht-Nannys , die Kinder während der Nacht betreuen, wenn die finanziellen Mittel dazu vorhanden sind.

«Die Mütter müssen lernen, auch sich selbst zu bemuttern.»

Angela Häne, Psychotherapeutin

Freiräume sollen dazu dienen, Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl zu entwickeln. «Die Mütter müssen lernen, auch sich selbst zu bemuttern», betont Häne. Die zentrale Frage lautet: Was kann ich mir zuliebe tun, und was vermittelt mir ein gutes Gefühl? Es ist wichtig, klein anzufangen. Schon ein Kleidungsstück oder bestimmte Musik kann positive Gefühle wecken. «Manchen Müttern hilft Traditionelle Chinesische Medizin oder Kinesiologie», sagt Angela Häne.

«Ich habe als Erstes meine Mutter um Hilfe gebeten, als ich gemerkt habe, dass ich die Kinder nicht mehr versorgen kann», erinnert sich Sandra Müller. Doch genützt habe es nicht. «Der Druck, dass ich mich jetzt erholen muss, hat mich noch zusätzlich gestresst.» 

Sandra Müller wandte sich nach und nach an verschiedene Ärzte, erzählte von ihren Beschwerden und Schwierigkeiten im Alltag. «Ich glaube, viele haben mich nicht wirklich ernst genommen», meint die 33-Jährige. Es wurde ein Eisenmangel diagnostiziert, Vitamin B12 und Folsäure wurden verschrieben, aber nichts half. Im Gegenteil, die Panikattacken wurden häufiger. Ein weiterer Arzt empfahl ihr schliesslich ein Antidepressivum sowie eine Therapie in einer Klinik.

Wenn es ohne Hilfe nicht mehr geht

In vielen Fällen reichen die Versuche zur Selbsthilfe nicht aus, um das Mutter-Burn-out zu überwinden. Falls der Erschöpfungszustand über acht bis zwölf Wochen anhält, kann eine Mutter oder ein Vater ihrem Alltag nicht mehr nachkommen. Wenn sich die Symptome sogar auf weitere Lebensbereiche neben dem Elternsein ausweiten, ist eine Gesprächstherapie ratsam. Sie kann ambulant oder stationär gemacht werden.

Oft bietet ein anfänglicher Klinikaufenthalt mit anschliessender ambulanter Psychotherapie eine gute Möglichkeit, um die Gedankenspiralen des Burn-outs zu durchbrechen. Man fokussiert sich darauf, zu lernen, dass es die «perfekte Mutter» nicht gibt – und dass es entscheidend ist, eine zufriedene und glückliche Mutter zu verkörpern. 

Eine Therapie dauert in der Regel sechs bis zwölf Monate, wenn man sich früh genug Hilfe sucht. Meist werden Einzelsitzungen angesetzt, die teils auch virtuell stattfinden können. Die Kosten für die Psychotherapie übernimmt die Krankenkasse, sofern eine psychiatrische Hauptdiagnose wie zum Beispiel Depression besteht. 

Klinikaufenthalt und ambulante Therapie

Sandra Müller nahm den Rat ihres Arztes an und entschied sich für einen Klinikaufenthalt. «In der ersten Woche hatte ich enormen emotionalen Stress, weil ich alles in Frage gestellt habe. In der zweiten Woche wurde ich dann richtig müde. Ich glaube, das war die ganze Erschöpfung, die sich aufgebaut hatte, weil ich bis an meine Grenze funktioniert habe.»

Insgesamt zweieinhalb Wochen verbrachte sie in stationärer Therapie, lernte, sich selbst wieder wahrzunehmen und wertzuschätzen. 

«Es geht mir besser», sagt Sandra Müller heute. Geheilt sei sie zwar nicht, aber dank ambulanter Psychotherapie und Antidepressiva Depressionen Was gegen Antidepressiva spricht – und was dafür nun auf einem guten Weg. Sie habe gelernt, sich auch einmal rauszunehmen aus den Alltagspflichten, wenn es zu viel werde. «Mein neues Motto lautet: Was du nicht geschafft hast bis um acht, das bleibt liegen über Nacht», sagt sie und lacht. Leerlauf statt Überlastung – das Gedankenkarussell dreht sich nun langsamer.

So können Eltern vorbeugen

Es gibt nachgewiesene Schutzfaktoren, die das Risiko eines Mutter-Burn-outs verringern:

  • Die eigenen Emotionen wahrnehmen und ernst nehmen,
  • Mitgefühl für sich selbst als Eltern empfinden,
  • eine gute Partnerschaft und Kommunikation aufbauen,
  • sich als Paar und Eltern gemeinsam um die Kinder kümmern,
  • aktiv Hilfe suchen und Unterstützung annehmen,
  • die schönen Erlebnisse mit dem Kind bewusst geniessen,
  • Möglichkeiten suchen, sich zu entspannen und den eigenen Stress zu bewältigen,
  • Routinen im Familienalltag entwickeln – das gibt Sicherheit und reduziert Stress.
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