Karin Streules zweijähriger Sohn trägt riesige Kopfhörer und lauscht nordischem Folk-Jazz, «Geigenmusik» nennt er es. «Er liebt akustische Instrumente», sagt seine Mutter. Sie unterrichtet Gesang, singt solo und in einer Band. Hat auch ihr Sohn das absolute Gehör? Die 38-Jährige lacht. «Das wäre lustig, aber er ist noch zu klein. Ich weiss es nicht.» Sie hat erst mit 17 erfahren, dass sie absolut hört. Eine zwiespältige Erfahrung.

Normal hörende Menschen erkennen, ob ein Ton laut, leise, höher oder tiefer ist als ein zuvor gehörter. Eine Absoluthörerin ordnet ihn einer Kategorie zu. Sie erkennt einen Ton exakt und unabhängig von Vergleichstönen. Vorgespielte Musikstücke kann sie schnell und fehlerfrei nachspielen.

Als Kind dachte sie, dass alle so hören

Ein Prozent der Allgemeinbevölkerung und 20 Prozent der professionellen Musiker haben das absolute Gehör, sagt Lutz Jäncke, Neurowissenschaftler an der Uni Zürich. Wer vor dem siebten Lebensjahr mit Musizieren beginnt, hat bessere Chancen darauf.

Karin Streule ist mit fünf Geschwistern in Brülisau AI aufgewachsen. Jodeln, Singen und Musizieren gehörten zu ihrem Alltag. Als Kind lernte sie Klavierspielen. «Ich dachte, alle hören so wie ich.»

Im Lehrerseminar merkte sie dann aber, dass dem nicht so ist. Sie sang im Chor oft die schwierigsten Stimmen, das fiel ihr leicht. Einmal sollte sie eine knifflige Mittelstimme singen und kam damit überhaupt nicht zurecht. Sie fragte die Chorleiterin, ob sie die Stimme nicht exakt in der Tonart singen könne, wie es auf dem Notenblatt stehe. Die Lehrerin meinte, das spiele doch keine Rolle. «Ich habe ihr zu erklären versucht, dass das wichtig ist. Ich begriff überhaupt nicht, wieso sie das nicht verstand.» Die Leiterin testete sie, spielte Töne auf dem Klavier. «Ich wusste jeden einzelnen Ton.» Da war klar: Sie hat das absolute Gehör.

Die Chorleiterin schnitt sie

«Für mich ist das wie Buchstaben lesen. Wenn ich zum Beispiel ein R sehe, weiss ich ja auch sofort, welcher Buchstabe das ist. Genauso ist es mit dem Hören von Tönen.» Schlimm war, dass die Chorleiterin Streule nach jenem Erlebnis schnitt. Damals habe sie die Welt nicht mehr verstanden und ihre Begabung fortan geheim gehalten.

Erst im späteren Gesangsstudium traute sie sich, dazu zu stehen. Doch auch dort habe es Lehrpersonen gegeben, die sich über sie lustig machten, wenn sie mal einen Fehler machte. «Das waren unangenehme Erlebnisse.» Im Alltag überwiegen für sie heute aber klar die Vorteile. Als Sängerin wie auch beim Unterrichten kann sie sich voll auf ihr Gehör verlassen, das sei schon sehr hilfreich.

Ihr Sohn kennt bereits alle Kirchen rund um Brülisau, wo seine Grosseltern wohnen, und von Kriens, wo die Familie lebt. Die Glockenspiele ziehen ihn in den Bann – wie alles, was klingt. Vielleicht hat er ja doch die Gabe seiner Mutter geerbt. 

Serie «Sie haben etwas mehr im Sinn»

In unserer fünfteiligen Serie stellen wir Menschen vor, bei denen ein Sinnesorgan besonders ausgeprägt ist. Sie alle haben im jeweiligen Bereich eine verschärfte Wahrnehmung. Die wachen Sinne können dabei ein Segen sein – oder aber zum Fluch werden, wenn sie zu scharf sind.

 

Teil 1

Absolutes Gehör: «Ich dachte, alle hören so wie ich»

Die meisten Menschen hören, ob die Musik laut oder leise ist. Karin Streule erkennt dank absolutem Gehör zusätzlich, um welchen Ton es sich handelt und ob sie die richtige Tonhöhe haben. 

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Teil 2

Synästhesie: Wenn Töne nach saurer Zitrone schmecken

Wache Sinne sind ein Segen. Für Elisabeth Sulser ist ihre zusätzliche Sinneswahrnehmung mitunter aber auch ein Fluch: Als Synästhetikerin sieht sie Töne als Farben oder schmeckt sie auf der Zunge.

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Teil 3

Fotografisches Gedächtnis: Jedes Bild brennt sich ins Gedächtnis ein

Wenn Walter Aeberli beim Zugfahren aus dem Fenster schaut, erinnert er sich auch Jahrzehnte danach noch an jedes Detail der vorbeiziehenden Landschaft. Seine besondere Gabe stellt der Rentner nun der ETH zur Verfügung.

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Teil 4

Misophonie: Wenn jemand in einen Apfel beisst, flippt sie aus

Wer an Misophonie leidet, für den sind gewisse Geräusche unerträglich. Doch bislang ist nicht mal klar, ob die Störung überhaupt eine Krankheit ist. Eine Betroffene erzählt von ihrem Spiessrutenlauf mit Geräuschen.

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Teil 5

Hochsensibler Geruchssinn: Sie hat einen guten Riecher

Brigitte Witschi ist ein Nasenmensch. In ihrer Erinnerung speichert sie zu Orten und Menschen vor allem die Düfte. Und sie kann riechen, wenn jemand Angst hat.

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Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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