Es sind nicht nur Hinterhofläden, in denen sich Jugendliche Alkohol beschaffen. Zu 100 Prozent liefern auch die Online-Shops von Migros, Globus und diversen Essenslieferdiensten. Zwar lässt die Migros im Juni über den Alkoholverkauf in ihren Geschäften abstimmen, im Internet läuft das Geschäft aber längst. Bier, Wein und Schnaps lassen sich auf migros.ch und im Grossraum Zürich auf heymigrolino.ch bestellen. Migros.ch akzeptiert die simple Eingabe, über 18 zu sein, um eine Lieferung auszulösen. Die Folge: Alle elf Kaufversuche durch Minderjährige waren erfolgreich.

Es war ein gross angelegter Test, der den Online-Handel mit Alkohol nachhaltig verändern dürfte. Zwischen Mitte Februar und Anfang April deckten sich 25 Jugendliche im Alter von 13 bis 17 im Internet mit Alkohol ein. 149-mal bestellten sie im Auftrag des Blauen Kreuzes Bier, Wein oder Spirituosen. Diese Getränke dürfen laut Gesetz nicht an Jugendliche verkauft werden. 

Das Ergebnis ist erschreckend: Bei über 80 Prozent der Bestellungen lieferten die Händler. Die Pakete wurden den Minderjährigen sogar persönlich überreicht, in der Regel bei ihnen zu Hause. 

Damit die Bestellungen klappten, mussten die Jugendlichen im Webshop einfach angeben, dass sie über 18 Jahre alt sind. Kaum ein Anbieter überprüfte ihr tatsächliches Alter. «Das hat uns echt schockiert», sagt Urs Ambauen, Geschäftsleiter des Blauen Kreuzes im Kanton Zürich.

Die Organisation hat seit über 20 Jahren Erfahrung mit Testkäufen in Ladengeschäften. Dort sind Verkäufer angehalten, die Ausweise der jungen Kundinnen und Kunden zu überprüfen. «Unerlaubte Verkäufe konnten so auf rund 20 Prozent reduziert werden. Während der Pandemie stiegen sie auf etwa 30 Prozent an. Manche Jugendlichen wurden wohl wegen der Maske nicht kontrolliert», vermutet Ambauen. 

Jetzt hat das Blaue Kreuz zum ersten Mal Online-Testkäufe durchgeführt. «Offensichtlich ist hier eine Art rechtsfreier Raum entstanden. Die Gesetze zum Jugendschutz werden mit einer simplen Falschangabe zum Alter ausgehebelt», sagt Ambauen. Rechtliche Schritte gegen fehlbare Online-Händler würden jetzt geprüft.

Nur bei Digitec Galaxus keine Chance – so erfolgreich waren die Online-Testkäufe der Jugendlichen


Zu 100 Prozent:
Migros, Migrolino, Globus, Uber Eats, Smood, Drinks of the World, Vino Vintana

Zu 97 Prozent:
Justeat.ch

Zu 86 Prozent:
Coop, Denner

Zu 0 Prozent:
Digitec Galaxus

Der Beobachter hat die Online-Händler mit den Ergebnissen konfrontiert. Mehrere zeigten sich überrascht, einige wollen jetzt eine Altersprüfung einführen, die diesen Namen verdient. «Wir arbeiten an einem Altersverifizierungssystem, das die Prüfung der Identitätskarte für Alkoholkäufe vorsieht», sagt etwa Migros-Sprecher Patrick Stöpper. Als Übergangslösung sollen nur Käufe mit verifizierten Kreditkarten und individuellen Altersabfragen möglich sein. 

Heymigrolino.ch hat bereits eine Altersprüfung eingerichtet. Dort muss ein amtlicher Ausweis mit dem Smartphone eingescannt werden. Das Aussehen des Kunden wird dann mit seinem Selfie verglichen, das er ebenfalls mit dem Smartphone erstellen muss.

Bei der Migros-Tochter Denner, die ausschliesslich Wein online verkauft, waren sechs von sieben Käufen erfolgreich. «Wir nehmen die Ergebnisse zum Anlass, die Alterskontrolle im Online-Weinshop zu verschärfen», sagt Sprecher Thomas Kaderli. Die Massnahmen sollen in den kommenden Monaten eingeführt werden.

Auch Migros-Konkurrent Coop – sechs von sieben Bestellungen kamen an – will diesen Schritt machen. «Das Resultat der Tests widerspricht klar unseren Bestimmungen. Wir nehmen den Jugendschutz sehr ernst und planen darum, auf coop.ch ein neues Verfahren zur Altersverifikation einzuführen», so Mediensprecher Kevin Blättler.

Taugliche Systeme für Altersprüfung existieren

Nicht alle getesteten Shops beliefern Minderjährige. Beim schweizweit grössten Online-Händler, Digitec Galaxus, scheiterten alle sechs Käufe. Das Unternehmen, das zu 70 Prozent der Migros gehört, arbeitet schon länger mit einer Altersprüfung. Registrierte Kunden werden einmalig aufgefordert, bestimmte Zahlen von der Rückseite ihrer ID oder aus ihrem Pass einzugeben.

«Dieses System hat sich bewährt. Für Kundinnen und Kunden mit Schweizer Identitätskarte und Schweizer Pass ist der Prozess voll automatisiert, sie können den Kauf sofort abschliessen», so Sprecher Stephan Kurmann. Andere Ausweise müssten noch manuell erfasst werden, was maximal zwei Arbeitstage dauere. «Negative Auswirkungen, etwa vermehrte Bestellabbrüche, haben wir nicht festgestellt.»

Für das Blaue Kreuz ist dies der Beleg, dass funktionierende Alterskontrollen längst existieren. «Wir sehen keinen Grund, dass sie nicht in allen Shops mit nicht jugendfreien Produkten eingesetzt werden», sagt Nadja Klein, Leiterin der Testkäufe.

Alterskontrolle versagt auch bei Kurierdiensten

Viele Shops versuchen jedoch, die Alterskontrollen auf die Lieferanten abzuwälzen, zum Teil auf Kurierdienste, die für Drittfirmen arbeiten. So funktioniert das Geschäftsmodell bei den meisten Lieferdiensten, die Bestellungen an Restaurants weiterleiten. 

«Wir agieren als Plattform und vermitteln zwischen Restaurant und Konsument», sagt Séverine Linda Götz von Just Eat. Über deren Plattform sind 38 von 39 Bestellungen bei den Jugendlichen angekommen. Eine Alterskontrolle durch die Kuriere hat offensichtlich versagt. Sie ist wohl auch schwer durchzusetzen, da diese unter Zeitdruck stehen und nicht zustellbare Getränke zurück in die Restaurants bringen müssten. «Wir werden unsere Kuriere und Restaurants, die mit eigenen Zustellern arbeiten, für die korrekte Durchführung von Kontrollen nochmals sensibilisieren», versichert Götz.

Manche Anbieter drohen in ihren Geschäftsbedingungen, die Jugendlichen zu verzeigen, die mit falschen Altersangaben bestellen. Das ist verwegen. Denn das Alkoholgesetz verbietet ausdrücklich den Verkauf von Alkohol an Minderjährige, nicht den Kauf durch Jugendliche. Bier und Wein dürfen an 16-Jährige verkauft werden, für alles andere gilt das Mindestalter 18. 

Alkohol ist Problem Nummer eins

Ob nicht überprüfte Altersangaben die Händler von Kontrollen befreien, ist fraglich. Gerichtsurteile dazu fehlen. «Wir haben eine stossende Ungleichheit zwischen Verkäufern in Ladengeschäften, die Ausweise kontrollieren müssen, und Online-Händlern, die auf jegliche Kontrollen verzichten», kritisiert Urs Ambauen vom Blauen Kreuz. Dies müsse sich ändern. 

«Wir fordern keine absolute Abstinenz, aber die Einhaltung des Jugendschutzes bei Heranwachsenden. Das sozialmedizinische Problem Nummer eins ist in der Schweiz der Alkohol. Je früher sich jemand regelmässig betrinkt, desto eher knüpft er später im Leben an diese Erlebnisse an.» Alkohol spielt zudem eine fatale Rolle, wenn es im Ausgang zu sexuellen und anderen Gewalttaten gegen Personen oder zu Vandalismus im öffentlichen Raum kommt.

Bleibt noch die Frage: Wo ist der Alkohol, den die Jugendlichen im Auftrag des Blauen Kreuzes gekauft haben? «Der ist bei uns, unter Verschluss. Wir werden ihn wegleeren oder – wo möglich – den Händlern zurückschicken und den Kaufpreis zurückverlangen», versichert Ambauen.

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Peter Johannes Meier, Ressortleiter
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