Sie habe jetzt keine Zeit für neugierige Fragen, sagt eine Aktionärin im Bauch der Bossard-Arena in Zug. Gleich beginnt hier die Generalversammlung des Betonkonzerns Holcim. «Ich will weit vorne sitzen, damit ich die Augen der Chefs sehe. Reden können viele. Aber an den Augen sieht man, ob sie auch die Wahrheit sagen.»

Generalversammlungen von Schweizer Weltkonzernen sind Massenevents. Das Publikum für die, die dort sprechen, ist entsprechend gross. Kurz durchzählen: 1600 waren es in diesem Jahr bei der UBS, 1700 bei Novartis und über 1000 bei Nestlé und Holcim.

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Der Ablauf ist überall ähnlich: Erst sprechen die Chefs. Und wenn man denen so zuhört, läuft es der Schweizer Wirtschaft im Frühjahr 2025 trotz «komplizierter Grosswetterlage» (Paul Bulcke, Nestlé) ganz hervorragend. 

Rendite. Resilienz. Kapitalallokation. Erfolgsbilanz und blühende Prosperität. «Noch Fragen zum Geschäftsbericht?» 

Jetzt ist der Moment, in dem die Aktionärinnen etwas sagen dürfen. Jetzt gilts. Jetzt ist Showtime. 

Man redet gern mit

Die Schweiz ist ein Land der Anlegerinnen und Anleger. In nur drei europäischen Ländern – Grossbritannien, Finnland und Schweden – haben die Menschen mehr Aktien als hier.

Generalversammlungen in der Schweiz sind ausserdem überdurchschnittlich gut besucht, was mit der politischen Kultur des Landes zu tun hat. Man will gern mitreden. 

  • «Wie kommt die UBS raus aus ihren Investitionen in Kohle- und Gasabbau?»
  • «Was unternehmen Sie, damit weniger Nestlé-Plastik im Meer landet?»
  • «Wann wird sich Holcim an einem Fonds zum Ausgleich von Klimaschäden beteiligen?»
  • «Was tut Novartis, um die CO₂-Emissionen im Ausland zu senken?»
  • «Mich würde mal interessieren, wie der Verwaltungsrat heute angereist ist, besten Dank.»

Investment und Identität

Die Konzernchefs sitzen erhöht wie Dirigenten eines unsichtbaren Zahlenorchesters hinter weiss erleuchteten Möbeln am Kopfende der Halle. Das Kapital – die Anlegerinnen und Anleger – sitzt in der dunklen Anonymität der Hallen, was widersprüchlich ist. Denn eigentlich gehört denen da unten der Laden. Aber den Dirigenten gehört die Show. 

«Als Aktionärin habe ich das Gefühl, noch gebraucht zu werden.»

Madeleine, Holcim-Mitbesitzerin

Die da unten, das ist zum Beispiel Madeleine. «Viele von uns sind zwar im Ruhestand. Aber durch unsere Aktien sind wir weiterhin aktiver Teil der Wirtschaft», erklärt sie am Rand der Holcim-GV. «Das hat auch mit Sinnhaftigkeit zu tun. Als Aktionärin habe ich das Gefühl, noch gebraucht zu werden.» 

Impressionen von der Generalversammlung der Holcim in Zug. Madeleine Robis (blaue Daunenjacke)

Findet es gut, wenn an der GV übers Klima geredet wird: Holcim-Aktionärin Madeleine

Quelle: Boris Müller

Karl, ein Mann mit Schnauz und rotem Tschäpper, sagt, er fahre pro Jahr an zehn bis fünfzehn Generalversammlungen. «An jeder einzelnen werden Forderungen nach besserem Klimaschutz gestellt», sagt er. Nervt ihn das? «Nein, das passt schon. Ohne uns machen die da oben, was sie wollen.»

Impressionen von der Generalversammlung der Holcim in Zug.
Karl Burch (roter Tschäpper)

Der Klimawandel sei an jeder GV Thema, sagt Holcim-Aktionär Karl.

Quelle: Boris Müller

Noch gebraucht werden. Mitreden. Etwas tun. In den Gesprächen mit vielen Kleinaktionären zeigt sich eine Art Verbundenheit, ja, Identifikation, die mit dem landläufigen Bild vom eiskalten Renditejäger gar nichts zu tun hat. 

Ein kleiner Fisch

Einer, der sich in diesem Habitat bewegt wie ein Fisch im Wasser, ist Vincent Kaufmann. Der 45-Jährige ist Direktor der Stiftung Ethos, die Pensionskassen bei nachhaltigen Anlagen berät. 253 Pensionskassen sind Ethos-Mitglieder, darunter jene der Versicherung Generali, des Opernhauses Zürich oder der Stadt Schaffhausen.

Diese Pensionskassen verwalten ein Gesamtvermögen von 416 Milliarden Franken. Doch wer denkt, das sei viel Kapital, dem antwortet Kaufmann: «Wir sind ein relativ kleiner Fisch im Teich.» 

Impressionen von der Generalversammlung der Holcim in Zug.
Vincent Kaufmann (Mann im schwarzen Anzug)

Vincent Kaufmann steht fast jedes Wochenende am Rednerpult einer Generalversammlung und fordert mehr Transparenz oder Massnahmen fürs Klima.

Quelle: Boris Müller

Das zeigt, welche schier unvorstellbaren Summen im Schweizer Aktienmarkt zirkulieren. Zu den grössten Playern gehören der Vermögensverwalter Blackrock, die UBS und Swisscanto. Sie haben ihre Meinung zu sämtlichen Traktanden bereits vor den Generalversammlungen bei den Managements deponiert. Am Tag X sagen sie Ja. Zu allem. 

Der Klimaperformer

Man spürt das an den Versammlungen. Diese bleierne Selbstsicherheit der Dirigenten hinter den leuchtenden Würfeln. Als Vincent Kaufmann, der kleine Fisch mit den 416 Milliarden im Rücken, an der Generalversammlung von Nestlé ans Rednerpult tritt, wird er vom Verwaltungsratspräsidenten Paul Bulcke spöttisch begrüsst. 

«Ah, Herr Kaufmann, spätestens wenn ich Sie sehe, dann weiss ich, dass wieder Generalversammlung ist.»

Tipps für Aktionäre

Grasgrüner Beton

David gegen Goliath, das ist Kaufmanns Job. Ethos durchforstet Geschäftsberichte und schaut, was dort über das Klima drinsteht. «Wenn die Massnahmen nicht ausreichen, empfehlen wir, den Bericht abzulehnen», erklärt Kaufmann. Wer die Ethos-Abstimmungsempfehlungen durchblättert, sieht: Fast alle Konzerne fallen hinter ihre selbst gesteckten Klimaziele zurück. Oder sie handeln widersprüchlich. 

Die UBS will zum Beispiel eine «Bank für die nächste Generation» sein – und investierte im Mai 350 Millionen US-Dollar in den australischen Öl- und Gasriesen Woodside Energy. Novartis will bis 2040 netto null erreichen. Aber weiss selbst über CO₂-Emissionen entlang der Lieferkette nur teilweise Bescheid, wie Recherchen von «Republik» und SRF zeigen. Holcim hat jetzt auch klimafreundlichen Beton, er heisst «der Grüne». 

Impressionen von der Generalversammlung der Holcim in Zug.

Egal, welche Generalversammlung man besucht: Überall wachsen Bäume – Trendfarbe grün.

Quelle: Boris Müller

Gleichzeitig gehört der Konzern laut der Datenbank Carbon Majors zu den grössten CO₂-Emittenten der Welt. An den Generalversammlungen versuchen Holcim, UBS und andere Konzerne, solche Widersprüche zu übertünchen. Auf Pappaufstellern, Powerpoint-Präsentationen oder auf dem Deckblatt der Geschäftsberichte: Überall wachsen Bäume. Trendfarbe grün.

Kampf gegen Windmühlen?

Trotz dieser unübersichtlichen Lage steht Kaufmann fast jede Woche irgendwo am Rednerpult einer Generalversammlung. Kaufmann kommt im Anzug, hält sich streng an den Kodex und ist allgemein sehr anständig. 

Zu anständig? «Im Shareholder-Business erreicht man nichts, wenn man poltert», sagt Kaufmann. «Geduld ist alles. Und Verbündete zu haben.»

Denn die Schweiz hat kritischen Aktionärinnen wie Kaufmann einen kleinen Hebel für mehr Mitwirkung gebaut: Grosse Konzerne müssen seit dem Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative 2024 in einem gesonderten Bericht darlegen, was sie im vergangenen Geschäftsjahr in den Bereichen Umwelt, Soziales und Klima getan haben. «Das sorgt für mehr Transparenz», sagt Kaufmann. 

Seither haben Aktionärinnen und Aktionäre im ganzen Land ein weiteres Argument, die Generalversammlungen mit Redebeiträgen zu exakt diesem Traktandum – den sogenannten nichtfinanziellen Belangen – aufzurütteln.

Ethos ist einer dieser Akteure, aber auch die Aktionärsvereinigung Actares, die Bürgerbewegung Campax oder die 200 Aktionäre unter dem Dach der Klima-Allianz gehören dazu. Letztere kritisieren die Nationalbank (SNB) unter anderem für Investments in Ölfirmen.

Die Strategie: Klima-Filibuster

Mit wachsenden Erfolgen. «Wichtig ist: Nicht herumlavieren, das nervt die Leute. Sondern konkrete Probleme benennen und am Ende eine präzise Frage stellen», sagt Asti Roesle, Aktionärin der Nationalbank. Mit dieser Strategie hat sie zusammen mit neun anderen Aktionärinnen die Hauptversammlung der Bank mit einer Art Klima-Filibuster in Beschlag genommen.

«Zehn von sechzehn Redebeiträgen – alle fürs Klima.» Die Nationalbank hatte zuvor bereits bekannt gegeben, Anteile am Ölriesen Shell sowie am Energiekonzern Chevron abzustossen.

Aktionärs-Aktivismus mit Erfolg

Auch andere Konzerne reagierten auf Druck aus dem Aktionariat: Campax-Anlegerinnen planten 2024, mit 50 Redebeiträgen die Generalversammlung der Zurich aufzumischen. Die Versicherung passte daraufhin ihre Klimarichtlinien an. Holcim wiederum publiziert seit 2022 zusätzlich zum Nachhaltigkeitsbericht einen Klimabericht. «Das haben wir explizit eingefordert», sagt Kaufmann von Ethos. 

Als einer der spektakulärsten Erfolge im Ausland gilt die Wahl von drei «Klimavertretern» in den Verwaltungsrat von Exxon Mobil, einem Ölriesen aus den USA. «Ein Resultat, das bislang undenkbar schien, könnte Schule machen», schrieb die Pensionskasse BVK über den Coup auf ihrer Website. 

Impressionen von der Generalversammlung der Holcim in Zug.

Ja, nein, Enthaltung. Kleinaktionäre lehnen Traktanden auch mal ab, um dem Verwaltungsrat einen Denkzettel zu verpassen. In der Regel werden sie von den grossen Playern überstimmt.

Quelle: Boris Müller

Finanzexperten gehen davon aus, dass die Konzerne in Zukunft auch in der Schweiz mit noch mehr Shareholder-Aktivismus rechnen müssen. Und dann sind da noch zwei Initiativen in der Pipeline. Die Konzernverantwortungsinitiative 2.0 wurde im Mai eingereicht. Die Finanzplatz-Initiative ist in der Sammelphase. Beide wollen strengere Auflagen und dass sich Schweizer Banken und Konzerne aus klimaschädlichen Geschäften zurückziehen.

Der ehrlichste Moment

Auch Nestlé wäre davon betroffen. «Ich fänds gut», sagt ein Mann, der sich an der Generalversammlung in Lausanne als Hans vorstellt. Hans ist an diesem Morgen im Mai mit dem Zug aus Solothurn angereist, das sind immerhin anderthalb Stunden pro Weg. Warum?

«Weil ich sehen will, wie Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke auf Fragen aus dem Saal reagiert.»

Hans sagt, das sei der ehrlichste Moment in diesem Schauspiel namens Generalversammlung. «Dann sieht man, wie die Bude wirklich tickt.»

Quellen