Niklas Bürki, ein Informatiker und zweifacher Vater, führte im Baselbiet ein scheinbar gewöhnliches Leben. Dann kamen ein Burn-out – und der Rücken. Niklas und seine Frau Daniela – beide heissen eigentlich anders – setzen sich an den Küchentisch. Darauf Papiertaschentücher und eine Plastiktüte mit Morphinampullen. Dann erzählen sie von ihrem Leidensweg.

Es war kurz vor seinem 50. Geburtstag, als Niklas Bürki in eine tiefe Erschöpfungskrise geriet. Der dauernde Stress und die hohen Erwartungen im Job hatten ihn ausgelaugt. Er brauchte eine Pause – und professionelle Hilfe.

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Immer neue Spezialisten

Nach dem ersten Klinikaufenthalt versuchte Bürki wieder in seinen alten Job einzusteigen. Er wollte wieder funktionieren, «ein zuverlässiger Mitarbeiter sein», wie er sagt. Doch schon bald tauchte ein neues Problem auf: sein Rücken. Bei einem geselligen Treffen im Nachbarsgarten sackte er zusammen, als er aufstehen wollte. «Ich habe mein rechtes Bein plötzlich nicht mehr gespürt», sagt er zum Beobachter. Kurz darauf geschah dasselbe beim Einkaufen.

«Ich bin mehr als einmal vor Schmerzen ohnmächtig geworden.»

Niklas Bürki (Name geändert)

Es folgten schier endlose Arztbesuche und Aufenthalte in Spitälern und Kliniken. Zunächst verschafften Injektionen und eine erste Operation Linderung – aber nur für ein Jahr. Dann kehrten die Gefühlsstörungen und Schmerzen zurück. Auch das Burn-out war hartnäckig. Während seines zweiten Klinikaufenthalts stuften die Ärzte seine Rückenschmerzen als psychisch bedingt ein. Das half Bürki nicht weiter; der Schmerz war äusserst real. Er fühlte sich abgestempelt: «Ich bin mehr als einmal vor Schmerzen ohnmächtig geworden», sagt er empört.

Da sich die Rückenprobleme weiter verschlimmerten, suchte Niklas Bürki immer neue Spezialisten auf. Doch die Beschwerden verschärften sich. Bürkis Wirbelsäule neigte sich zunehmend nach vorne, bis er weder stehen noch gehen konnte und schliesslich auf einen Rollstuhl angewiesen war.

Während eines Reha-Aufenthalts stufte ihn ein Arzt offiziell als querschnittgelähmt ein. Eine Diagnose, die Bürki bis heute nicht verstehen kann, die aber in jedem nachfolgenden Bericht auftaucht beziehungsweise übernommen wird. Er ist überzeugt, dass es sich um eine Fehldiagnose handelt. Die Reha-Klinik äussert sich nicht zu diesem Vorwurf.

Die Wirbelsäule wird versteift

Ehefrau Daniela holt die Ordner mit Niklas’ Krankengeschichte aus dem Regal und legt den Austrittsbericht des letzten Krankenhausaufenthalts auf den Tisch. Er stammt von 2024.

Auf sechs Seiten sind Diagnosen, Therapien und Operationen aufgelistet und eine detaillierte Übersicht aller verschriebenen Medikamente vermerkt. Der Bericht schildert die Geschichte einer Wirbelsäule, die in mehreren Etappen von der Lendenregion bis hinauf zum Kinn korrigiert und versteift wurde. Und er listet die Probleme auf, die als Folge davon entstanden; etwa eine Stuhl- und Harninkontinenz. «Ein Ärztefehler», ist Bürki überzeugt. Belegen kann er es nicht. «Wir haben ein System, in dem Fehler immer weitergetragen werden. Ich hätte mir gewünscht, dass man alle Akten schreddert und irgendwann wieder bei null anfängt.»

Immer mehr Schulden häufen sich an

Der grosse Zeiger der Küchenuhr scheint Minuten zu überspringen, während das Paar versucht, das Geschehene zu datieren und einzuordnen. Niklas Bürki steht zwischendurch immer wieder auf, um den Rücken zu entlasten. Noch heute streikt sein Bein. Er hinkt, als er zur Maschine geht, um sich einen weiteren Kaffee rauszulassen.

«Man hat uns definitiv das Leben zur Hölle gemacht.»

Niklas Bürki (Name geändert)

Trotz all der OPs und Rehas gelang es nicht, den gelernten Informatiker wieder fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Irgendwann wurde Bürki vom RAV ausgesteuert. Als das kleine Vermögen des Ehepaars aufgebraucht war, sprang das Sozialamt ein – und brachte neue Belastungen mit sich. «Eines Tages kam ein Brief, in dem stand, wir hätten 16 Tage Zeit, um das Auto zu verkaufen, sonst würden die Leistungen gekürzt», erzählt Bürki dem Beobachter. «Man hat uns definitiv das Leben zur Hölle gemacht.»

Er legte Beschwerde beim Kanton ein, sie wurde abgelehnt. Bürki zieht den Brief aus einem Ordner. Darin steht nüchtern begründet, warum: Für Arztbesuche, Therapien und den Arbeitsweg seiner Frau könne man den öffentlichen Verkehr benutzen. Der Umgang mit den Behörden zehrte an Daniela Bürki: «Ich war oft unsicher beim Ausfüllen der Formulare. Wir bekamen keine Unterstützung und fühlten uns den Behörden völlig ausgeliefert.»

Die angespannte Stimmung zu Hause legte sich wie ein Schatten über die Familie.

Auch ihre Kinder litten zunehmend unter der Situation. Sie verzichteten nicht nur auf Ferien im Ausland und andere Annehmlichkeiten, sondern spürten auch, dass ihr Vater kaum noch Energie für gemeinsame Unternehmungen hatte. Die angespannte Stimmung zu Hause legte sich wie ein Schatten über die Familie.

Dann, vier Jahre nach dem Zusammenbruch in Nachbars Garten, kam der erlösende Entscheid der kantonalen IV-Stelle: Niklas Bürki bekommt seither eine volle Rente.

«Er ist ein anderer Mensch als früher»

All das Leid und die Sorgen, sie haben ihre Spuren hinterlassen. Niklas sei ungeduldiger geworden, manchmal auch aggressiv, sagt seine Frau. «Er ist ein anderer Mensch als früher.» Daniela Bürki hält kurz inne, bevor sie fortfährt: «Für mich kam es nie in Frage, ihn allein zu lassen. Wir haben uns einmal versprochen: im Guten wie im Schlechten.»

Was sie besonders verletzt hat, ist die fehlende Unterstützung aus dem Umfeld. «Keiner hat nachgefragt, wie es uns geht», sagt sie und tupft sich die Tränen ab. «Das hat niemanden mehr interessiert.» Anfangs hätten Freunde, Bekannte und Verwandte noch Anteil genommen, erzählt sie. Doch mit der Zeit sei das Interesse versiegt, das Mitgefühl verschwunden.

Mehr als einmal hat Niklas Bürki darüber nachgedacht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Einmal stand er mit dem Auto schon vor einer Felswand und wollte Gas geben. Dann klingelte das Telefon. Seine Tochter war dran, sie erinnerte ihn daran, dass er sie noch abholen wollte. «Also habe ich rechtsumkehrt gemacht. Wäre dieser Anruf nicht gewesen, gäbe es mich heute nicht mehr», ist er überzeugt.

Hilfe in persönlichen Krisen

Schicksalshafte Begegnung im Notfall

Letztes Jahr dann – Niklas Bürki war inzwischen bei täglich zehn Ampullen Morphin angelangt, eine Dosis, die ihn den Führerschein kostete – überschlugen sich die Ereignisse. Bürki stürzte die Treppe hinunter und landete im Notfall des Kantonsspitals Baselland. Von dort wurde er auf die Wirbelsäulenabteilung des Bruderholzspitals verlegt. Ein Zufall, der sich als Wendepunkt erweisen sollte.

Denn dort lernte Bürki André Wirries kennen. Der Spezialist untersuchte ihn gründlich, sichtete die Akten und fand, was anderen entgangen war. «Bei den früheren Eingriffen haben sich einzelne Probleme summiert, die zusammen zu einem Kollaps der Wirbelsäulenstatik geführt haben», sagt der Rückenarzt. Früher sei es üblich gewesen, bei Operationen an der Wirbelsäule einzelne Abschnitte zu begradigen. Dadurch sei bei Bürki die natürliche Krümmung der Lendenwirbelsäule zunehmend verschwunden, was zu einem Verlust der natürlichen Balance der Wirbelsäule geführt habe.

Wirries erklärte dem Ehepaar die Situation ausführlich und schlug eine Rekonstruktion der gesamten Wirbelsäule vor. Aufgrund der Komplexität riet er zu einer Zweitmeinung. Die Bürkis vertrauten dem Arzt und stimmten dem Vorschlag schliesslich zu.

Die Operation dauerte zwölf Stunden. Schritt für Schritt korrigierten und stabilisierten Wirries und sein Team die Wirbelsäule. Das Ziel: die natürliche Doppel-S-Form und somit das Gleichgewicht wiederherzustellen. Nach einem zweiwöchigen Spitalaufenthalt konnte Bürki sein Krankenbett verlassen – und zwar auf seinen Beinen.

«Ein Wunder»

«Bereits am zweiten Tag konnte ich aufstehen. Das nach zehn Jahren im Rollstuhl. Ein Wunder.» Heute, sechzehn Jahre nach den ersten Rückenschmerzen und einer Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken, kann Bürki bis zu zweihundert Meter ohne Hilfsmittel laufen, Schritt für Schritt. Die Schmerzmittel reduziert er langsam. Auch den Führerschein hat er inzwischen wieder zurück. Dieses kleine Stück Selbstbestimmung bedeutet ihm viel. Auf seinem Rücken zieht sich eine lange, tiefe Narbe hinunter bis zum Gesäss. Sie dokumentiert all die Jahre des Leidens.

Sein altes Leben hat Niklas Bürki nicht zurückbekommen. Geblieben sind Muskelschmerzen, wenn auch weit weniger quälend als früher. «Der Arzt hat mir gesagt, dass ich ein Leben lang Schmerzen haben werde», sagt er. Eine düstere Prognose – aber immerhin eine ehrliche. Und vielleicht gerade deshalb auch eine tröstliche. Denn sie hat ihm etwas zurückgegeben, das lange verschwunden war: Vertrauen.