Gute Bücher verschlingt man. Grossartige Bücher verschlingen einen selbst. «Die unendliche Geschichte» ist so ein Buch. Wer es liest, wird buchstäblich ins Geschehen hineingezogen.

Der Autor Michael Ende (1929–1995) nutzt dafür einen genialen Trick: Er macht uns zu Komplizen des Romanhelden. Um Phantásien zu retten, müssen wir immer weiterblättern.

Als ich als Drittklässler erstmals eintauchte, erfasste mich ein metaphysischer Schauer. Gleichzeitig begriff ich, was Bücher sein können: Portale in alle möglichen Welten.

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Die Geschichte ist nicht zu Ende, wenn wir sie weiterspinnen.

Die Welt in Endes Roman wird vom Nichts bedroht. Wo immer sich die dunkle Macht ausbreitet, bleiben Leere und Hoffnungslosigkeit zurück. Glücklicherweise gibt es ein Gegengift: unsere Fantasie. Die Geschichte ist nicht zu Ende, wenn wir sie weiterspinnen.

Im Hier und Jetzt hat das Nichts einen konkreten Namen: Illettrismus. Betroffene haben Mühe mit Lesen und Schreiben. Die Zahl dieser funktionalen Analphabeten steigt. «Niveau im Sinkflug», stand kürzlich im «Tages-Anzeiger», Primar- und Sekundarschüler hätten in den letzten Jahren an Lese- und Schreibkompetenz eingebüsst.

Ein Befund, der auch in der aktuellen Pisa-Studie zum Ausdruck kommt. Zwischen 2015 und 2022 stieg der Anteil leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler von 20 auf 25 Prozent. Für sie sind Buchdeckel keine Türen zu faszinierenden Welten, sondern unüberwindbare Barrieren.

Den Bücherwürmern und Leseratten fehlt es an Nachwuchs.

Es wäre nun allzu einfach, in stumpfen Kulturpessimismus zu verfallen. Tiktok, Hörbüchern oder Youtube die Schuld zu geben, dass Lesen aus der Mode gerät und Gedrucktes Staub ansetzt. Obwohl Studien genau zu diesem Schluss kommen.

Ein beunruhigendes Fazit zog etwa das Verlagshaus Harper Collins nach einer Befragung im Vereinigten Königreich. Weil Eltern ihren Sprösslingen keine Geschichten mehr vorlesen, ob aus Langeweile oder Mangel an Zeit, werden keine neuen Bücherwürmer und Leseratten mehr herangezogen. Die Folgen: ächzende Buchhändler. Und eine Generation, die das Lesen aus purer Freude nicht kennt.

Indem wir lesen, erschaffen wir Welten, wo vorher nichts war.

Hier liegt das eigentliche Problem. Wer nicht liest, verpasst die besten und exklusivsten Inhalte. Jene, die allein durch unsere Vorstellungskraft zum Leben erweckt werden.

Indem wir lesen, erschaffen wir Welten, wo vorher nichts war. Fantasie kennt kein Produktionsbudget, keine beschränkte Screentime. Alles ist möglich, wenn wir es denken können. Und alles, was es dafür braucht, ist ein gutes Buch. Natürlich geht das Abendland nicht unter, wenn niemand mehr liest. Bloss wird das Leben darin schrecklich langweilig.

Denn eines ist klar: Buchstaben sind Bildern haushoch überlegen. Auf der Kinoleinwand sieht Lord Voldemort, der Bösewicht aus dem Harry-Potter-Universum, stets gleich aus: wie der britische Schauspieler Ralph Fiennes mit aschgrauem Make-up. In den Köpfen der Lesenden hingegen nimmt jener, dessen Name nicht genannt werden darf, mehr als 600 Millionen Mal eine andere Gestalt an.

Bibliotheken sind Apotheken und Wellness-Hotels für den Geist.

In ihrer Ode ans Lesen («Dear Reader») schreibt Cathy Rentzenbrink: «Das Lesen hat mir immer wieder das Leben gerettet und mir in jeder schwierigen Zeit zur Seite gestanden.» Wer liest, ist weniger allein.

Gleicht unser Leben gerade einer komplizierten Odyssee, gibts bestimmt irgendwo in der Literaturgeschichte eine Heldin oder einen Helden, der oder die eine ähnliche Situation schon gemeistert hat.

Bibliotheken sind Apotheken und Wellness-Hotels für den Geist. Man muss nur zum richtigen Buch greifen.