Die Seniorinnen siegten, die Schweiz unterlag. Dieses Urteil verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg letztes Jahr im sogenannten Klimaseniorinnen-Fall. Die Wogen gingen hoch in der Schweiz. 

Mit dem Urteil hielt das Gericht fest: Unzureichender Klimaschutz verletzt Menschenrechte. Und um die menschenrechtliche Pflicht einzuhalten, müssen Staaten ihren fairen Anteil am global verbleibenden CO₂-Budget berechnen. Die Klimastrategie eines Landes muss sich danach ausrichten. 

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Brisantes Detail im Umsetzungsbericht

Nur: Was betrachtet die Schweiz jetzt als fairen Anteil? Das zeigt sich in den Unterlagen, die der Bund dem Europarat vorgelegt hat. Und zwar um aufzuzeigen, wie er das Urteil umsetzen will.  

Beobachter-Recherchen zeigen nun: Die Schweiz packte ein brisantes Detail in die Unterlagen – der Bund fordert für die Schweiz ein, die dreifache Menge CO₂ ausstossen zu dürfen, die uns eigentlich pro Kopf zustünde. 

Dreimal so klimaschädlich wie andere

Konkret hält der Bund fest, dass die Schweiz 0,33 Prozent des global noch verfügbaren CO₂-Budgets brauche. Die Schweiz macht aber global nur 0,11 Prozent der Bevölkerung aus. Also dreimal weniger.

Das würde bedeuten, dass die Schweiz sich herausnimmt, auf Kosten anderer Länder dreimal so klimaschädlich leben zu dürfen. Und dass sich dafür andere Menschen in anderen Ländern viel stärker einschränken müssten. Denn nur so liesse sich das globale CO₂-Budget trotzdem einhalten und die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen.

CO₂-Budget zentral im Klimaseniorinnen-Urteil

Wie kommt der Bund überhaupt dazu, das zu fordern? Der Grund für diese Diskrepanz: Der Bund macht die Rechnung in umgekehrter Richtung, als das Gericht es fordert. Das Gericht hielt fest, dass die Klimastrategie vom CO₂-Budget abgeleitet werden müsse. Die Schweiz leitet ihr verbleibendes CO₂-Budget aber von den Schweizer Klimagesetzen und -zielen ab.

«Das ist offensichtlich unfair.»

Georg Klingler, Klimaexperte bei Greenpeace Schweiz

Vereinfacht gesagt: Das Gericht will, dass zuerst festgestellt wird, wie gross der Kuchen ist, den es zu verteilen gibt. Der Bund hingegen sagt nur, was er zu essen plant. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aber genau das im letztjährigen Urteil kritisiert und festgehalten, dass so kein wirksamer Rechtsrahmen in Bezug auf den Klimaschutz geschaffen werden kann. 

«Dass die Schweiz dreimal so viel vom knappen globalen CO₂-Budget beanspruchen möchte, wie ihr aufgrund der Bevölkerungsgrösse angerechnet werden kann, ist offensichtlich unfair», sagt Georg Klingler, Klimaexperte bei Greenpeace Schweiz und Initiant der Klimaseniorinnen-Aktion. «Darum hat das Gericht die Schweiz verurteilt.»

Bund verweist auf andere Kriterien

Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) sieht die Sache mit der Fairness etwas anders, wie es auf Anfrage des Beobachters schreibt. Aus dieser Zahl könne sich keine Aussage zur Gerechtigkeit ableiten lassen. Man könne neben der Weltbevölkerung auch noch ganz andere Kriterien wie etwa den historischen Beitrag eines Landes zu den bereits verursachten weltweiten Emissionen, soziale Faktoren, die Wirtschaftsleistung oder Beiträge zur Emissionsminderung über Forschung und Innovation heranziehen und beliebig gewichten. Es gebe eben keinen internationalen Konsens, um ein Klimaziel oder Treibhausgasbudget als fair oder gerecht zu beurteilen, so das Bafu. 

Tatsächlich gibt es keine globalen Standards, um nationale CO₂-Budgets festzulegen. Aber es gibt wissenschaftliche Methoden. Die EU hat zum Beispiel das European Scientific Advisory Board on Climate Change damit beauftragt, ein CO₂-Budget zu berechnen, und auf dieser Basis ihre Klimapolitik verschärft.

An wissenschaftlichen Methoden orientieren

Die Schweiz könnte sich an diesen wissenschaftlichen Methoden orientieren, sagt Georg Klingler: «Die Wissenschaftler haben mehrere der Faktoren miteinbezogen, die das Bafu erwähnt. Wenn man Kriterien wie historische Verantwortung und Wirtschaftskraft hinzuzöge, statt nur eine Pro-Kopf-Rechnung zu machen, hätte die Schweiz sogar noch weniger CO₂-Budget zur Verfügung.»

Am 23. Juni hat der Bund den aktualisierten Umsetzungsbericht eingereicht – und zwar nochmals mit den gleichen Budgetberechnungen. Nochmals mit dem dreifachen CO₂-Budget pro Kopf der Schweizer Bevölkerung. Was das Ministerkomitee des Europarats davon hält, wird sich im September zeigen. Dann ist der Klimaseniorinnen-Fall wieder traktandiert.