Der Bundesrat soll den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg an seine «Kernaufgaben» erinnern. Das hat nach dem Ständerat nun auch der Nationalrat entschieden. 

Grund für diesen Auftrag an den Bundesrat ist eine Motion des Appenzeller FDP-Ständerats Andrea Caroni. Darin geht es um das Klimaseniorinnen-Urteil, bei dem die Schweiz im April 2024 wegen unzureichenden Klimaschutzes verurteilt wurde.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Der Gerichtshof habe sich damit «von gewissen Grundsätzen der EMRK entfernt», begründete Caroni seinen Vorstoss. Besonders stört sich Caroni daran, dass der Gerichtshof die Klage eines Vereins zugelassen hat und die Menschenrechte ausufernd ausgelegt sowie ein Recht auf Klimaschutz in den Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hineingelesen habe. 

Nun muss der Bundesrat versuchen, den EGMR an seine Kernaufgabe zu erinnern. Wie die Chancen stehen, dass er damit Erfolg hat, sagt die ehemalige EGMR-Richterin im Beobachter-Interview. 

Beobachter: Die Mehrheit im Parlament und im Bundesrat ist der Meinung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beim Klimaseniorinnen-Urteil völlig überbordet hat. Wie sehen Sie das?
Helen Keller: Es ist ein Vorwurf, der zwei Aspekte hat. Der erste ist: Klima hat nichts mit den Menschenrechten zu tun. Das halte ich für einen sinnlosen Vorwurf. Alle internationalen Menschenrechtsorgane sagen, der Klimawandel ist die grosse Herausforderung für die Menschenrechte.

Und der zweite Vorwurf betrifft die Klagelegitimation des Vereins. Da meine ich, dass der Gerichtshof die richtige Instanz ist, um Artikel 34 der EMRK, also die Klagebefugnis, auszulegen, und das hat er in diesem Urteil getan. 

Zur Person

Das Schweizer Parlament will jetzt Einfluss nehmen auf das Gericht in Strassburg. Geht das überhaupt? Ist das legitim? 
Der Gerichtshof muss unabhängig sein, insbesondere von den politischen Organen der Mitgliedstaaten. Es ist seine Aufgabe, die EMRK auszulegen und anzuwenden, und das kann er nur, wenn er unabhängig ist von den Parlamenten. Sonst müsste er ja immer nach den Launen der Politik agieren, und das ist gerade nicht die Idee dieses Gerichtshofes.

«Alle sagen, die Schweiz will das Urteil nicht umsetzen. Aber schauen Sie doch mal, was die Schweiz geliefert hat.»

Die Schweiz hat letztes Jahr entschieden, das Urteil nicht umzusetzen. Wenn dagegen andere Staaten Urteile nicht respektieren, sorgt das für viel Diskussion um die Rechtsstaatlichkeit. 
Die Schweiz macht innenpolitisch ein bisschen Rhetorik, will gewisse Kreise beruhigen. International signalisiert sie aber schon Umsetzungswille. Und es erstaunt mich, dass der Schweizer Aktionsplan relativ wenig in der Presse behandelt worden ist. Alle sagen, die Schweiz will das Urteil nicht umsetzen. Aber schauen Sie doch mal, was die Schweiz geliefert hat, wie man beim Ministerkomitee des Europarats, also beim Organ, das die Umsetzung prüft, reagiert hat. Die Schweiz muss zwar das eine oder andere noch bis im September nachliefern. Aber der Rest sieht mir doch nach einer ganz ordentlichen Umsetzung aus. 
 

Mit der Motion will das Parlament, dass der Bundesrat das Gericht an seine Kernaufgaben erinnert. Er hat jetzt den Auftrag, ein Zusatzprotokoll zur EMRK anzustreben. Was sind die Chancen, dass so etwas gelingt? 
Es gibt verschiedene Zusatzprotokolle zur EMRK, aber die haben eigentlich immer dazu geführt, dass der Schutz der Menschenrechte ausgebaut worden ist, und nicht, dass man den Schutz reduziert hat. Das wäre ein Novum. Der Weg dorthin ist ein langer, ein komplizierter, ein steiniger. Ein Zusatzprotokoll kann erst in Kraft treten, wenn sämtliche 46 Mitgliedstaaten es ratifiziert haben. Das ist also nicht von heute auf morgen machbar.

Die kleine, aber doch zentrale Frage, was denn eine Kernaufgabe des EGMR ist, ist nicht ganz einfach zu lösen. Und viele Menschenrechtsexperten würden Ihnen sofort sagen, Klimaänderung und die Eindämmung der negativen Auswirkungen auf die Menschen ist eine Kernaufgabe des Menschenrechtsschutzes. 
 

Ist es neu, dass der EGMR die Menschenrechte weiterentwickelt?
Nein, das gehört zum Standard. Das hat der Gerichtshof in den letzten 70 Jahren immer wieder gemacht. 1950 war die Telefonüberwachung technisch noch fast nicht möglich. Heute sind wir auf Schritt und Tritt überwacht. Der Gerichtshof interpretiert die Menschenrechte eben als lebendiges Instrument, das die Menschen vor den neuen Herausforderungen der Gesellschaft schützen muss. Und das tut übrigens nicht nur der Gerichtshof in Strassburg, das tut auch das Schweizerische Bundesgericht.

Gibt es solche Diskussionen wie jetzt in der Schweiz auch in anderen Staaten?
Punktuellen Widerstand gegen ein Urteil, das gibt es immer wieder. Ein Aufschrei, und das legt sich dann wieder. Es gibt auch systematischen Widerstand, wie zum Beispiel von Russland. Russland ist deshalb aus dem Europarat ausgeschlossen worden, und ich hoffe nicht, dass die Schweiz auf dieselbe Stufe will wie Russland.