Urteil 2C_667/2020, Bundesgericht: «Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 7. Juli 2020 aufgehoben.» Was in trockenem Juristendeutsch daherkommt, kann für alle der rund 1,4 Millionen Menschen, die mit dem C-Ausweis in der Schweiz leben, richtig wichtig werden.  

Bis 2019 galt: Wer länger als 15 Jahre in der Schweiz gelebt hat und über die Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis) verfügt, konnte praktisch nicht weggewiesen werden. Dafür musste man schon «in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung» verstossen oder zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt werden. Ausländerinnen und Ausländer mit C-Ausweis waren im Prinzip wie Schweizer, nur ohne Pass und ohne politische Mitsprache. 

Seit der Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes gilt Widersprüchliches: Die Niederlassungsbewilligung ist zwar grundsätzlich unbefristet; wer «Integrationsdefizite» hat, kann aber rückgestuft werden. Der C-Ausweis wird entzogen und in eine befristete Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) umgewandelt.

Das hat grosse Nachteile. Der B-Ausweis ist meist nur ein Jahr gültig und muss dann erneuert werden. Wem es innert der gesetzten Frist nicht gelingt, den Grund für die Rückstufung aus der Welt zu schaffen, riskiert seine B-Bewilligung und muss womöglich das Land verlassen. Das kann zum Beispiel passieren, wenn man sozialhilfebedürftig wird. Denn neu zu den Integrationskriterien gehört, dass man wirtschaftlich und sprachlich integriert ist.   

Landesverweis droht

Eine Rückstufung kann alle Ausländerinnen und Ausländer treffen. Selbst wenn sie in der Schweiz geboren wurden und ihr ganzes Leben hier verbracht haben. Auch wer einen vermeintlich sicheren Job hat und gesund ist, kann etwa wegen eines Schicksalsschlags Arbeit und Einkommen verlieren und plötzlich auf Sozialhilfe angewiesen sein. Dann droht die Rückstufung auf den Status B und im schlimmsten Fall ein Landesverweis.

Seit Anfang 2019 wurden 597 Personen von einer C- auf eine B-Bewilligung rückgestuft, zeigen Zahlen des Staatssekretariats für Migration (SEM). Die meisten in den Kantonen Zürich (170 Fälle) und Aargau (111 Fälle). Am häufigsten wurde Menschen aus Serbien, der Türkei und Nordmazedonien die C-Bewilligung entzogen (siehe Grafik). Ob und wie viele dieser 597 Personen danach auch ihre B-Bewilligung verloren und das Land verlassen mussten, ist nicht bekannt. Seine Datenbank könne das zurzeit nicht auswerten, erklärte das SEM. 

Die Praxis zeigt: Kantone, Ämter und Gerichte interpretieren unterschiedlich, wann ein Integrationsdefizit vorliegt und die Kriterien für den C-Ausweis nicht mehr erfüllt sind. Das Bundesgericht hat nun mit einem Grundsatzurteil in wichtigen Punkten Klarheit geschaffen. Zum einen dürfen bei Rückstufungen nur Defizite berücksichtigt werden, die seit Inkrafttreten des Gesetzes vorkommen oder über dieses Datum hinaus fortdauern. Zum anderen muss es sich um ein erhebliches Defizit handeln.  

597 Personen wurden seit Januar 2019 vom C- auf den B-Ausweis rückgestuft.

Infografik zur Herkunft der rückgestuften Personen
Quelle: Quelle: SEM | Infografik: Andrea Klaiber
Kantone mit den meisten Rückstufungen
Quelle: Quelle: SEM | Infografik: Andrea Klaiber

Wichtiger Entscheid

Beim Verfahren vor Bundesgericht ging es um einen Kosovaren, der 1992 als 14-Jähriger in die Schweiz kam, nun verheiratet ist und Kinder mit Schweizer Pass hat. Er wurde zwischen 2005 und 2018 insgesamt 13-mal verurteilt. Allerdings habe es sich vor allem um Taten von «untergeordneter Bedeutung» gehandelt, so das oberste Schweizer Gericht. Der Kosovare hatte mehrere Strassenverkehrsdelikte begangen und war für die Einfuhr von Haschisch verurteilt worden. 2018 erhielt er eine Geldstrafe, weil aus seinem Reisecar Öl ausgeflossen war. Im September 2019 widerrief das Migrationsamt des Kantons Aargau seine Niederlassungsbewilligung. Dass er immer wieder straffällig geworden sei, zeige, dass er ein Integrationsdefizit habe. 

Das Bundesgericht war damit nicht einverstanden. Die Straftaten seien alle vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes begangen worden, und man könne dieses nicht rückwirkend anwenden. Auch sei die Rückstufung unverhältnismässig. Der Mann lebe seit über 28 Jahren in der Schweiz, sei wirtschaftlich integriert und habe nie Sozialhilfe bezogen. Er darf seinen C-Ausweis behalten, wurde allerdings vom Bundesgericht verwarnt. 

Das Urteil, das bereits im Herbst 2021 erfolgte, wurde bisher kaum wahrgenommen. Dabei hat es Auswirkungen für alle Menschen mit Niederlassungsbewilligung: Eine Rückstufung ist nicht mehr so einfach. Gemäss dem obersten Gericht braucht es dafür ein «aktuelles Integrationsdefizit von einem gewissen Gewicht». 

Rückstufungen rückgängig gemacht

«Dieser Grundsatzentscheid ist wichtig», sagt Kilian Meyer, Oberrichter in Schaffhausen. «Man wird künftig darauf achten müssen, nur ausnahmsweise und bei gravierenden Fällen rückzustufen.» Sinnvollerweise werde es zudem zuerst eine Verwarnung brauchen. Meyer sagt aber auch: Den Fall des Kosovaren hätte es nicht geben müssen, hätte das Parlament eine Übergangsregelung gemacht. «Unsorgfältige Gesetze sorgen in der Praxis für schwierige Fragen, die die Gerichte erst Jahre später klären können. Dazwischen herrscht Rechtsunsicherheit.» Das komme besonders häufig im Migrationsrecht vor. Dort gebe es einen regelrechten Gesetzgebungsaktivismus. 

Für das Aargauer Migrationsamt hatte das Bundesgerichtsurteil erhebliche Konsequenzen, bestätigt Kommunikationsleiterin Sandra Olar. Bis dahin habe man intern selber festlegen müssen, wann jemand ein Integrationsdefizit habe und eine Rückstufung gerechtfertigt sei. Erfahrungswerte hätten schlicht gefehlt. Nach dem Urteil überprüfte das Amt bei hängigen Fällen, ob sie mit der neuen Rechtsprechung übereinstimmen. Verfügte Rückstufungen machte es teilweise rückgängig. Und in vier Fällen, in denen bereits Einspracheverfahren liefen, sind die Rückstufungen aufgehoben worden.

Verschuldet oder unverschuldet

Für den auf Migrationsrecht spezialisierten Anwalt Marc Spescha ist auch nach dem Urteil des Bundesgerichts nicht geklärt, wann von einem ernsthaften Integrationsdefizit gesprochen werden kann. Wer etwa unverschuldet von der Sozialhilfe abhängig werde, könne das nicht einfach ändern. Was verschuldet und was unverschuldet sei, sei reine Interpretationssache der Behörden. Es brauche nun unbedingt eine differenzierte Auseinandersetzung zum Begriff des Verschuldens. «Es ist unverständlich, dass Migrationsbehörden einen selbstverschuldeten Sozialhilfebezug annehmen, wenn gleichzeitig das Sozialamt anerkennt, dass der Hilfeempfänger alles Zumutbare mache, um eine Stelle zu finden.»

Spescha befürchtet, dass es trotz dieses Bundesgerichtsurteils weiterhin zu unverhältnismässigen Rückstufungen kommt. «Viele Migrationsämter tun sich erfahrungsgemäss schwer damit, ihre herkömmliche Praxis den bundesgerichtlichen Vorgaben anzupassen. Betroffene werden sich daher auch in Zukunft mit Beschwerden für ihre Rechte wehren müssen.»

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