Die Frage ist eigentlich simpel. Doch die Antwort erstaunlich vielschichtig – und sie ändert sich immer wieder. Was ist das drängendste Problem der Schweiz?

Eine Umfrage, die Einwohnerinnen und Einwohnern der Schweiz seit einem Vierteljahrhundert genau diese Frage stellt, ist das Sorgenbarometer von GFS Bern. Zuletzt erschien sie im vergangenen Sommer. Seit eineinhalb Jahren führt auch das Büro Leewas Wahlumfragen durch, in denen diese Frage vorkommt.

Die GFS-Studien eignen sich gut, um die langfristige Entwicklung der Sorgen von 1996 bis 2022 nachzuzeichnen. Die Leewas-Wahlumfragen deuten gar in die Zukunft: Sie zeigen die Trendwenden auf, die sich in den letzten Monaten ergeben haben und die auch im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen im Oktober relevant sind.

Allgemein lassen sich die Sorgen in vier Gruppen einteilen.

1. Diese Sorgen sind wir los

Eine erste Gruppe hat im Verlauf der Zeit an Dringlichkeit verloren. Dazu zählen etwa die Arbeitslosigkeit und die Problematik rund um Suchtmittel.

Die Angst vor einem Jobverlust war um die Jahrtausendwende sehr ausgeprägt: Rund drei Viertel der Befragten zählten die Arbeitslosigkeit damals zu den grössten Problemen. Seither sank dieser Wert kontinuierlich. 2022 zählten gemäss GFS-Barometer nur noch 14 Prozent die Arbeitslosigkeit zu den grössten Sorgen. Daran hat sich auch zuletzt nichts geändert, wie aus den Leewas-Umfragen hervorgeht.

Diese Entwicklung erscheint nicht unbedingt zwingend. Aktuell ist die Arbeitslosenquote in der Schweiz zwar ziemlich tief. Doch einen klaren Abwärtstrend gibt es seit der Jahrtausendwende nicht: Vielmehr wechselten sich Phasen hoher Arbeitslosigkeit mit solchen tiefer Arbeitslosigkeit ab. Einen leichten Anstieg gab es zuletzt etwa während der Corona-Krise.

Nichtsdestotrotz scheint die Schweiz erstaunlich sorgenfrei, was die allgemeinen Wirtschaftsfragen betrifft. Das bestätigt sich auch in den Leewas-Umfragen der vergangenen eineinhalb Jahre.

Ähnlich sieht es bei den Suchtmitteln aus. Ende der Neunzigerjahre, als die Erinnerung an die offene Drogenszene in Zürich noch frisch war, figurierte «Drogen/Alkohol» auf den Spitzenplätzen des Sorgenbarometers. Heute taucht die Kategorie nur noch im Anhang der Studie auf (und in der Leewas-Studie überhaupt nicht mehr).

Nicht dass heute weniger Menschen Cannabis, Kokain oder Ecstasy konsumieren würden: Offiziellen Statistiken zufolge ist eher das Gegenteil der Fall. Doch offenbar wird das von der Bevölkerung als weniger problematisch eingeschätzt.

2. Die Sorgen-Dauerbrenner

Eine zweite Gruppe von Sorgen hält sich über die Zeit ziemlich konstant. Dazu zählt etwa die Altersvorsorge: Seit 1996 wird sie durchs Band zu den drängendsten Problemen gezählt. Das erstaunt nicht angesichts der demografischen Alterung und der zunehmenden Schwierigkeiten, die Bundesrat und Parlament in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Rentenreform-Projekten bekundeten.

Auch das Thema Verkehr erzielt seit 1996 konstante Werte auf dem Sorgenbarometer. Allerdings scheinen Staus und überfüllte Züge eher ein Ärgernis zu sein als eine Sorge, die schwer auf der Volksseele lastet: Im Vergleich zur AHV wird der Verkehr als deutlich weniger problematisch eingestuft.

3. Sorgen, die zunehmend im Fokus stehen

Anders ist das bei zwei anderen Problemen: Klimawandel und Energie. Diese haben über die Jahre stark an Prägnanz gewonnen.

Beim Themenfeld Umwelt und Klima verzeichnete das Barometer 2007 einen ersten markanten Anstieg. Damals thematisierte auch der Weltklimarat die Bedrohung durch den Klimawandel in einem wichtigen Bericht. 2017 bis 2019 nahm das Problembewusstsein abermals zu, es formierten sich Jugendbewegungen, und eine breite Diskussion über den Klimaschutz kam in Gang.

Die Problemkategorie «Energiefragen/Kernenergie» ist im Verlauf der letzten Jahre ebenfalls in den Vordergrund gerückt. Seit der russischen Invasion in der Ukraine figuriert sie in den Umfragen sogar erstmals unter den top drei der Sorgen.

Dieses Jahr dürfte die Energieversorgung sogar noch stärker im Fokus stehen. Das geht aus jüngsten Befragungen hervor, die das Büro Leewas im Februar 2023 durchgeführt hat. Die Energieversorgung wird dabei noch häufiger zu den drängendsten Problemen gezählt als der Klimawandel, wo der Trend momentan leicht rückläufig ist.

Im Hinblick auf die Wahlen ergibt sich daraus eine spannende Ausgangslage. 2019 konnten Grüne und Grünliberale vom aufkommenden Problembewusstsein für den Klimawandel profitieren. Just in dieser Phase stiegen die entsprechenden Werte auf dem Sorgenbarometer stark an.

Nun verlagert sich die Wahrnehmung: Statt zu befürchten, dass zu viel (fossile) Energie verbraucht wird, machen sich die Leute eher darüber Sorgen, dass zu wenig Energie bereitsteht. Davon profitieren bürgerliche Parteien, wie sich auf kantonaler Ebene zuletzt in Zürich, Luzern und Genf angedeutet hat.

4. Sporadisch aufflammende Sorgen

Denselben Parteien, allen voran der SVP, spielt im Wahljahr 2023 ein weiterer Trend in die Hände: Die Zuwanderung rückt als Sorge wieder in den Vordergrund.

Sie zählt zu den zyklischen Sorgen. Das heisst, dass ihre Wahrnehmung auf die lange Sicht keinem klaren Muster folgt, sondern Schwankungen unterliegt.

So stand die Zuwanderung etwa 2014 im Fokus, als die Schweiz über die Masseneinwanderungsinitiative abstimmte. 40 Prozent der Befragten zählten sie damals zu den drängendsten Problemen.

Bis 2022 hat sich dieser Anteil halbiert. Doch seit einigen Monaten schwingt das Pendel zurück. Das geht aus den vier Umfragen hervor, die Leewas von Dezember 2021 bis Februar 2023 durchgeführt hat. In dieser Zeit ist die Zuwanderung in der Rangliste des Instituts von Rang 6 auf Rang 3 aufgestiegen.

Eine naheliegende Erklärung dafür ist, dass die tatsächliche Zuwanderung zuletzt zugenommen hat. 2022 kamen gemäss Statistiken des Staatssekretariats für Migration netto mehr Menschen in die Schweiz als je zuvor im vergangenen Jahrzehnt. Auch in den Medien wurde das Thema zuletzt stark bewirtschaftet, unter Schlagworten wie der «Neun-Millionen-Schweiz».

Eine Trendwende zeichnet sich auch beim Asylwesen ab. Nach der Flüchtlingswelle von 2015 verlor diese Sorge zunehmend an Bedeutung. Seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges werden Asylfragen jedoch wieder stärker als Problem wahrgenommen.

Ähnlich verläuft die Sorgenkurve bei den Gesundheitskosten. Über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg hatte dieses Problem an Dringlichkeit verloren. Doch jüngst häufen sich die Sorgen darüber wieder, was am grossen Anstieg der Prämien für 2023, aber auch an der angespannten Personalsituation im Gesundheitswesen liegen könnte.

Dass Gesundheit etwas kostet, ist eigentlich nichts Neues. Seit Jahrzehnten steigen die Gesundheitsausgaben in der Schweiz im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt an. Trotzdem wird das nur sporadisch als Problem wahrgenommen. Das verdeutlicht, dass Sorgen ein vielschichtiges Phänomen sind. Langfristige Entwicklungen überlagern sich mit kurzfristigen Trends. Was überwiegt, kann sich innerhalb von wenigen Monaten ändern.

Noch ist also nicht entschieden, welches Problemfeld im Herbst am stärksten im Fokus steht und welche Wählergruppen davon am meisten mobilisiert werden.

Verschiedene Studien, verschiedene Resultate

Die exakte Reihenfolge herauszufinden, in der verschiedene Sorgen stehen, ist gar nicht so einfach. Das zeigt der Vergleich der Studien von GFS Bern und Leewas.

Bei Leewas wurden etwa die Gesundheitskosten im August 2022 als drängendstes Problem überhaupt eingestuft. Im Sorgenbarometer von GFS Bern landeten sie nur auf Rang 6. Die Ursache dafür ist nicht ganz klar. Möglicherweise liegt es an den unterschiedlichen Settings.

Während bei Leewas rund 26’000 Personen über ein Online-Formular befragt werden, stützt sich GFS Bern auf ein kleineres Sample von rund 1800 Personen, die teils Face to Face und teils via Internet ihre Meinung kundtun. Beide Institute gewichten die Antworten nach Geschlecht, Alter und weiteren Merkmalen, wobei jeweils eine eigene Methodik zum Zug kommt.

Eine weitere Besonderheit liegt darin, wie die Antworten kategorisiert sind. So stand im letztjährigen Sorgenbarometer von GFS Bern etwa der breit gefasste Themenkomplex «Umweltschutz / Klimawandel / Umweltkatastrophen» an der Spitze. Diesen Sammelbegriff gibt es in der Leewas-Umfrage so gar nicht. Hier sind «Klimawandel» und «Umweltschutz» separate Kategorien. In der Rangliste erscheinen sie weiter hinten auf den Plätzen 3 und 7.

Welche Variante die richtige ist, lässt sich objektiv nicht beurteilen. Taucht ein neues Problem wie die Corona-Pandemie auf, so gibt es gute Gründe, eine neue Kategorie zu bilden. Allzu oft sollte eine Umfrage die Anzahl der Kategorien und deren Formulierung aber nicht verändern, denn das erschwert Auswertungen über die Zeit.