Dreissig Mal höher sei die bei einem schweren Unfall freiwerdende Radioaktivität, als das bei der Planung der Schutzmassnahmen des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz BABS bisher vorgesehen ist. Das ergab eine am 21. Mai publizierte Studie des Institut Biosphère in Genf. Die Forscher haben die Auswirkungen eines grossen Nuklearunfalls in Schweizer AKW anhand realer meteorologischer Daten von 2017 untersucht.

Mit der «European Nuclear Power Risk»-Studie wurden laut einer Medienmitteilung der Schweizerischen Energie-Stiftung SES erstmals moderne meteorologische Berechnungen wie auch neue medizinische Erkenntnisse berücksichtigt, um die Risiken einer solchen Katastrophe in Westeuropa zu beurteilen. Die Studie fokussiert insbesondere darauf, wie Wetter und Geographie die Ausbreitung der radioaktiven Wolke beeinflussen würden.

Schutzkonzept soll überarbeitet werden

Bei einem Unfall im grenznahen französischen AKW Bugey oder in den Schweizer AKW Mühleberg, Gösgen, Leibstadt oder Beznau wären demnach rund 20 Millionen Personen von der freiwerdenden Strahlung betroffen. Geschätzte 12'500 bis 31'100 Menschen würden wegen der Strahlung vorzeitig an Krebs- oder Herzkreislauferkrankungen Test Wie geht es Herz und Kreislauf? sterben. Dazu kämen weitere strahlungsbedingte Erkrankungen sowie genetische Störungen und Beeinträchtigungen der Fruchtbarkeit.

Die SES fordert basierend auf den neuen Erkenntnissen, dass der Bundesrat das «derzeit ungenügende Schutzkonzept» rasch revidiert. 

«Szenario höchst unwahrscheinlich»

Das für die Planung und Koordination der Notfallschutzmassnahmen bei einem Atomunfall zuständige BABS erklärt auf Anfrage, dass die wesentliche Grundlage für diese Planung die vom Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI definierten «Referenzszenarien» seien. «In den letzten Jahren (insbesondere seit dem KKW-Unfall von Fukushima) sind die Notfallschutzmassnahmen systematisch überprüft und verbessert worden», sagt der Mediensprecher des BABS. «Seit Anfang 2019 ist die totalrevidierte Verordnung über den Notfallschutz in der Umgebung von Kernanlagen in Kraft.» Damit habe der Bundesrat die Massnahmen bereits verschärft.

«Eine seriöse Analyse der vorgelegten Berechnungen ist in so kurzer Zeit nicht möglich», ergänzt die Atomaufsicht Ensi, als der Beobachter sie mit der neuen Studie konfrontiert. Es seien nach Fukushima umfangreiche Berechnungen zu schweren Unfällen gemacht worden, solche Szenarien seien aber «höchst unwahrscheinlich».
 

Was passiert genau bei einem Unglück wie Fukushima in der Schweiz?

Die Schweizer Behörden sind nach der Katastrophe von Fukushima nicht untätig geblieben. Seither hat der Bund ein neues Notfallschutzkonzept erarbeitet, das bei einem AKW-Unfall umgesetzt würde. Allen Plänen zum Trotz bleiben viele Fragen offen. In unserer Titelgeschichte vom März 2016 beantworteten wir die dringlichsten – ausgehend vom amtlichen Katastrophenszenario.

Warnschild Atomunfall
Quelle: Michael Raaflaub
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