Wäre 2022 ein Film, dann würden sich darin abgehalfterte Protagonisten in zerschlissenen Unterhemden durch Lavaströme und Supertornados kämpfen – im Dunkeln natürlich, mit Taschenlampen zwischen den Zähnen. Der Soundtrack: nervenaufreibend. Ein Film, von dem man keine Fortsetzung sehen will.

Die Realität war nicht weniger dramatisch: Nachdem man die Pandemie Anfang Jahr gebodigt hatte, marschierte Russland am 24. Februar in die Ukraine ein. Viele Schweizerinnen und Schweizer öffneten ihre Türen und boten den Geflüchteten Unterschlupf. Bald schon zogen die Preise an. Für den Liter Milch zahlte man plötzlich fast zwei Franken und für die Autoversicherung locker ein Zwanzigernötli mehr. Im Herbst heizte man den Backofen nicht mehr vor und fror im Büro an die Finger. 

Bundesrat und Parlament appellierten darum häufig an die Eigenverantwortung und Solidarität der Bevölkerung. Umso stossender, dass gerade der Nationalrat das Jahr höchst unsolidarisch beschloss. Er will, dass als allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge höher gewichtet werden als kantonale Mindestlöhne. Im Klartext heisst das: Er will kantonale Volksentscheide umstossen und die Mindestlöhne faktisch abschaffen. 

Das ist ein völlig falsches Zeichen zum völlig falschen Zeitpunkt. Für alle, denen die Inflation den Lohn wegfrisst und die einen Druck auf der Brust spüren, weil der Sohn eine Zahnspange braucht, das Auto schon länger ein komisches Geräusch macht oder die Steuern bezahlt werden müssen. Das sind nicht wenige.  

Solidarität nimmt nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Politik in die Pflicht. Sie muss Rahmenbedingungen schaffen, in denen die Schwächsten selbstbestimmt und damit eigenverantwortlich leben können. Sowieso schon tiefe Löhne noch tiefer zu machen, gehört da sicher nicht dazu. Eine Eigenverantwortung ohne Solidarität gibt es nicht. Beides lässt sich auch nicht einfach abschieben – auch nicht auf die Arbeitgeberinnen, wie es momentan geschieht. Diese müssen nun entscheiden, ob sie ihren Arbeitnehmenden einen Teuerungsausgleich gewähren wollen oder können.  

Tatsächlich hätte das Parlament im vergangenen Jahr einige Gelegenheiten gehabt, den Preisschock zumindest langfristig etwas abzufedern und Geringverdienende zu entlasten. Doch: Der Ständerat trat nicht auf einen Vorschlag ein, der mehr Geld für die Prämienverbilligungen bei der Krankenkasse gebracht hätte (auch 2023 werden die Prämien steigen). Und der Nationalrat versenkte eine Vorlage gegen überrissene Mietzinse. 

2023 stehen erneut Herausforderungen an, die wir gemeinsam meistern müssen – auch wenn es keine Lavaströme oder Supertornados sind (hoffentlich). Dazu brauchen wir ein stabiles Fundament, Vertrauen in unsere Institutionen und ineinander. Wir können nichts gebrauchen, das uns als Gesellschaft spaltet oder Ungleichheiten noch grösser macht. 

Ach, für 2023 wünsche ich mir am liebsten eine romantische Komödie!