Wie gut kann sich die Schweiz selbst versorgen, wenn der Welthandel plötzlich ins Wanken gerät? Wie stark ist das Land von Importen abhängig? Seit der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg sind solche Fragen vielen wieder ins Bewusstsein gerückt. Und das will politisch bewirtschaftet werden. Esther Friedli und Marcel Dettling, die beide für die SVP im Nationalrat sitzen, kündigten letzten Sommer eine «Bauerninitiative» an. Ziel: Der Selbstversorgungsgrad soll steigen. Das Rezept: weniger Biodiversitätswiesen, mehr Flächen für Ackerbau Melioration vs. Artenvielfalt Die ewige Zweite . Marcel Dettling formuliert es so: «Statt Sommervögeli zu zählen, sollen Bauern machen, wozu sie da sind: Nahrungsmittel produzieren.»

Sehr ähnlich klingt es jetzt auch aus dem entgegengesetzten Lager: Franziska Herren, Initiantin der Trinkwasserinitiative, will eine «Vegi-Initiative» lancieren. Das Rezept: mehr Gemüse produzieren, weniger Fleisch. Ziel: den Selbstversorgungsgrad steigern.

«Diese Zahlen grenzen an Irreführung»

Friedli und Dettling wollen die Landwirtschaft intensivieren, Herren will die Fleischproduktion zugunsten von pflanzlichen Nahrungsmitteln eindämmen. Die Logik ist aber bei beiden Initiativen in einem Punkt die gleiche: weniger importieren, mehr selber produzieren, die Abhängigkeit vom Ausland verringern.

Das klingt erst mal einleuchtend. Heute ist die Schweiz zur Hälfte vom Ausland abhängig. Der Selbstversorgungsgrad beträgt 56 Prozent brutto respektive 49 Prozent netto, wenn man die importierten Futtermittel berücksichtigt. Doch diese Zahlen grenzen an Irreführung, sagt SP-Nationalrätin Nadine Masshardt, die zugleich die Stiftung für Konsumentenschutz präsidiert. Denn die Sache mit den Importen hat einen Haken: Ob Futtermais oder Erbsen, wer Pflanzen anbauen will, braucht Samen und Setzlinge. Und die kommen meistens aus dem Ausland.

Porträtbild Nadine Masshardt
Quelle: nadinemasshardt.ch

«Wer die inländische Produktion ankurbelt, vermindert die Abhängigkeit von Importen nicht, auch wenn das behauptet wird. Eher im Gegenteil.»

Nadine Masshardt, SP-Nationalrätin (BE)

Masshardt wollte vom Bundesrat wissen, wie stark die Schweiz auf solche und andere landwirtschaftliche Vorleistungen wie Dünger, Pflanzenschutzmittel oder Treibstoff angewiesen ist. Die kürzlich veröffentlichte Antwort auf ihre Interpellation findet sie ernüchternd: Bei vielen Kulturen weiss man es gar nicht so genau. Bei anderen ist es klar: Das Saatgut für Raps und Zuckerrüben etwa stammt zu 100 Prozent aus dem Ausland. Beim Gemüse sind es etwa 90 Prozent. Das ist aber nur eine Schätzung, harte Zahlen gibt es nicht.

Mehr Abhängigkeit von Importen

Der Bevölkerung werde Sand in die Augen gestreut und Sicherheit vorgegaukelt, findet Masshardt. «Ehrlicherweise müsste man beim Netto-Selbstversorgungsgrad die Vorleistungen mit einbeziehen.» In Bezug auf die angekündigten Initiativen ist für sie klar: «Wer die inländische Produktion ankurbelt, vermindert die Abhängigkeit von Importen nicht, auch wenn das behauptet wird. Eher im Gegenteil.»

Marcel Dettling von der SVP will davon nichts wissen: «Das ist Chabis. Das hiesse im Umkehrschluss ja, dass weniger Inlandproduktion die Auslandabhängigkeit senkt.» Franziska Herren sagt, ihr gehe es primär darum, eine Balance zwischen der Produktion von tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln herzustellen, was den Land- und Wasserverbrauch reduziere. «Die Initiative will zudem die Bodenfruchtbarkeit und die Biodiversität fördern, so dass weniger Dünger und Pestizide eingeführt werden müssen. Und sie stärkt die inländische Produktion von Saat- und Pflanzgut.»

Doch warum werden beim Netto-Selbstversorgungsgrad eigentlich nur die Futtermittelimporte, nicht aber all die anderen Vorleistungen eingerechnet? Das Bundesamt für Landwirtschaft hat eine verblüffend ehrliche Antwort: weil der Selbstversorgungsgrad dann gegen null tendieren würde.

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