Beobachter: Frau Bertschy, sind Sie froh über das Urteil aus Strassburg?
Kathrin Bertschy: Ich begrüsse es, ja. Es zeigt, dass nicht mehr toleriert wird, Gesetze unterschiedlich auf die Geschlechter auszurichten. Dass man eine staatliche Rente erhält, wenn man noch minderjährige Kinder hat – obwohl wir ja auch Waisenrenten kennen –, kann ich noch nachvollziehen. Aber eine zusätzliche Rente, die vom Geschlecht und Trauschein abhängt – unabhängig davon, ob Kinder da sind oder eine Bedürftigkeit vorliegt –, das ist schlicht nicht mehr zeitgemäss und auch nicht finanzierbar.


Heisst das, man soll als Reaktion auf das Urteil nicht die Witwerrenten ausbauen, sondern bei den Witwen sparen?
Man wollte das schon mit der letzten Revision der AHV. Es hätte nur noch eine Rente gegeben, wenn minderjährige Kinder da sind, die Waisenrenten hätten erhöht werden sollen. Das ist der richtige Ansatz. Man könnte auch sagen: Es gibt nur noch Renten für Kinder, die einen Elternteil verlieren, diese sind dafür höher – und keine Partnerrenten mehr. Warum soll eine 45-Jährige Frau ohne Kinder, die vor x Jahren verheiratet war und deren Ex-Mann stirbt, eine staatliche Rente erhalten? Das ist doch nicht fair jenen gegenüber, die ihren Lebensunterhalt auch selber erwirtschaften.

«Man zahlt ihnen eine Rente, wenn der Ernährer stirbt. Ich finde das zynisch.»

Kathrin Bertschy, Co-Präsidentin von Alliance F

Die Richter schreiben aber, ihr Urteil solle keine Einladung sein, bei den Witwen zu kürzen.
Wir müssen uns fragen, wer hier eigentlich genau «profitiert». Es heisst immer: die Frauen, weil sie potenziell die Renten erhalten. Ich sehe das anders. Es ist eine Versicherung von Abhängigkeit. Männer machen Karriere, auf ihre Kosten. Viele Frauen sind wirtschaftlich abhängig, kümmern sich vor allem um Haushalt und Kinder und sind dann im Alter finanziell schlecht gestellt, weil ihnen eine eigene Altersvorsorge fehlt. Dabei hätten sie die gleich guten Ausbildungen und möchten auch ihrer Berufung nachgehen. Die Rahmenbedingungen  – fehlende Individualbesteuerung, immens hohe Kita-Tarife, keine Elternzeit – sind aber so gesetzt, dass es sich für sie häufig nicht lohnt, zu arbeiten. Im Gegenzug zahlt man ihnen dann eine staatliche Rente, wenn der Ernährer verstirbt. Ich finde das zynisch. Stattdessen sollten wir die Rahmenbedingungen für die Berufstätigkeit der Mütter verbessern, dann braucht es in Zukunft auch diese Versicherung von Abhängigkeit nicht mehr.


Älteren Frauen, die eine traditionelle Rollenteilung gelebt haben, hilft das aber nicht.
Natürlich braucht es Härtefallregelungen und eine Übergangsfrist. Man kann diese Rente nicht von heute auf morgen abschaffen.


Man kann einwenden, solange Frauen sonst noch benachteiligt sind, etwa beim Lohn, ist die Witwenrente ein Art Kompensation.
Aber dann bleiben wir in diesem System, wo sich Ungleichheiten weiter reproduzieren. Natürlich kann man nicht das Eine tun und das Andere lassen. Individualbesteuerung einführen, Kinderbetreuung verbilligen, in der 2. Säule den Koordinationsabzug abschaffen, Elternzeit – das braucht es für eine gleichberechtigte Gesellschaft. Es braucht eine Übergangszeit, wenn man die Witwenrente nicht mehr nach Geschlecht und Zivilstand ausrichtet und sie für viele als Versicherung wegfällt. Aber es ist auch ein Bestandteil von Geschlechterdiskriminierung, wenn wir sie beibehalten.

Witwer klagt gegen Schweiz – mit Erfolg

Dass die Schweiz Witwen und Witwer bei der Rente unterschiedlich behandelt, verstösst gegen die Menschenrechte. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nun entschieden.

Vor acht Jahren hatte ein Witwer in Strassburg geklagt. Ihm wurde die Witwerrente gestrichen, als die jüngere seiner beiden Töchter volljährig wurde. Als Frau hätte er die Rente weiter erhalten. Denn für eine Witwenrente genügt es, dass eine Frau Kinder hat, egal, wie alt diese sind. Ohne Kinder muss sie bei der Verwitwung mindestens 45 Jahre alt sein und fünf Ehejahre vorweisen. Selbst geschiedene Frauen ohne Kinder erhalten eine Rente beim Tod des Ex-Mannes: wenn die Ehe einst zehn Jahre gedauert hat und die Frau bei der Scheidung mindestens 45 war.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Bund prüft, ob er es an die Grosse Kammer des EGMR weiterzieht. Sollte diese darauf eintreten, rechnet der Anwalt des Klägers mit weiteren zwei bis drei Jahren bis zum Entscheid.

Auch bei einem definitiven Erfolg erhält der Kläger nicht automatisch die geforderte Nachzahlung von rund 190'000 Franken. Unter Umständen ist dafür eine erneute Klage vor Bundesgericht nötig.

Zur Person

Kathrin Bertschy ist Co-Präsidentin der Frauenorganisation Alliance F und GLP-Nationalrätin.

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