Wie viele andere bin ich mit einigen fundamentalen Gewissheiten aufgewachsen. Etwa: Das Postauto kommt immer, und es kommt pünktlich – und es hupt, wenn es um eine Kurve fährt. Oder: Schokolade ist schlecht für die Zähne. Und: Wer etwas Böses tut, bekommt seine gerechte Strafe. Denn vor dem Gesetz sind alle gleich. Unterdessen bin ich erwachsen geworden, und während manche Gewissheiten weiterhin Halt geben im Leben (das Postauto in meinem Heimatdorf kommt weiterhin fahrplanmässig), sind andere über Bord gegangen. 

Etwa: Dass vor dem Gesetz alle gleich wären. Wer Geld hat, ist gleicher: 

Die Geschichte der Woche

Wie kann es sein, dass ein Richter im Kanton Zürich einem mittellosen Angeklagten nahelegt, auf einen amtlichen Anwalt zu verzichten? Ein Millionärssohn mit zwei hochbezahlten Verteidigern in derselben Situation ungleich besser dasteht? Meine Kollegin Katharina Siegrist hat diese und andere Ungerechtigkeiten der Schweizer Justiz einem Check unterzogen. Sie hat früher selbst als Anwältin gearbeitet und sagt: 

«Dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sein sollen, habe ich schon immer für ein leeres Versprechen gehalten. Mein Faktencheck hat mich leider nicht vom Gegenteil überzeugt. Überrascht war ich, dass nur 1,4 Prozent aller Beschuldigten in einem Strafbefehlsverfahren einen amtlichen Verteidiger haben. Man muss davon ausgehen, dass viele Armutsbetroffene gar nicht wissen, dass sie dieses Recht hätten.» – Katharina Siegrist

 

Ausserdem

Diese Woche ist Sturmtief «Frederico» über die Schweiz gezogen und hat heftige Orkanböen mitgebracht. Ist was kaputtgegangen bei Ihnen? Sturmschäden: Wer haftet, wer zahlt? Jetzt lesen.

In einem Tiktok-Video beschimpft «Bachelor» Fabrizio Behrens drei Frauen. Der Clip verbreitet sich rasant – und zeigt die Gefahr von Hass im Netz auf. «Gottverlassene Miststücks»: Warum Beleidigungen im Netz so problematisch sind. Jetzt lesen.

Auch zwei Jahre nach der Infektion leiden manche noch an Long Covid. Ihr Taggeld wird eingestellt, die IV lässt sich Zeit. Was nun? Very Long Covid: Den Betroffenen geht das Geld aus. Jetzt lesen (mit Abo).

Aus der Redaktion

Vier Jahre lang dauerte die Suche. Dann hatte Hannes Streif seinen biologischen Vater gefunden. Streif wurde 1980 am Inselspital Bern gezeugt – mithilfe einer anonymen Samenspende. Yves Demuth hat diese Woche seine Geschichte erzählt. Und welche Überraschung(en) ihn am Ende seiner Suche erwartete(n)

Heute ist die anonyme Samenspende nicht mehr erlaubt. Und Kenntnis der eigenen Abstammung ein anerkanntes Menschenrecht. Doch wer vor 2001 auf die Welt kam, tappt oft im Dunkeln. Wir wollen helfen. Sie kennen Ihren biologischen Vater nicht und wollen nach ihm suchen? Dann hier entlang, bitte!

Und zum Schluss

Justitia mag in der Schweiz nicht so blind sein, wie wir es gerne hätten – aber immerhin ist sie nicht zu beschäftigt, um überhaupt hinzuschauen. Leider ist auch das nicht garantiert. Meine Kollegin Tina Berg hat recherchiert, wie die Schweizer Justiz Menschen viel zu lange warten lässt – auf einen Entscheid, der Leben oder Tod bedeuten könnte.

So viel für heute. Bis nächste Woche.