Beobachter: Frau Pauli, wenn man in der Schweiz übers Land fährt, sieht man viel Grün. Haben wir tatsächlich ein Problem mit der Biodiversität?
Daniela Pauli: Grün ist eben nicht gleich Biodiversität. Biodiversität bedeutet Vielfalt; doch in satt gedüngten Wiesen herrscht Einfalt, da wachsen keine Blumen ausser Löwenzahn und Hahnenfuss. Im Kulturland, also in den landwirtschaftlich, städtisch und wirtschaftlich geprägten Landschaften, sind viele Arten gefährdet: Die Feldlerche ist im Mittelland über weite Strecken verschwunden.


Ist die Situation in den Bergen besser?
Unberührt ist in der Schweiz keine Landschaft mehr, in den Bergen hinterlassen Tourismus und Klimawandel Spuren. Aber die Situation der Biodiversität ist in den höheren Lagen tatsächlich noch besser. Wo der Güllenwagen nicht hinkommt, sieht man Glockenblumen, Wundklee, Witwenblumen – eine Farbenpracht, die man weiter unten kaum mehr findet. Im Wald steht es um die Biodiversität ebenfalls noch ziemlich gut. Aber das nützt den Kulturlandarten nichts, sie können nicht einfach den Lebensraum wechseln.
 

In der Schweiz sind von den Amphibien- und Reptilienarten drei Viertel gefährdet. Warum steht es um sie so schlecht? 
Amphibien sind mindestens für einen Teil ihres Lebenszyklus auf Wasser angewiesen. Kleine Tümpel, naturnahe Uferzonen und Moore sind besonders stark gefährdete Lebensräume. Bei den Amphibien kam noch ein hautschädigender Pilz dazu, dem gewisse Bestände zum Opfer fielen. Ihnen fehlt es aber auch an Strukturen an Land – genauso wie den Reptilien. Letztere benötigen unter anderem Trockenmauern, Stein-, Holz- oder Grashaufen. Solche Strukturen fehlen heute im Kulturland weitgehend. Man räumt sie weg, damit die Bewirtschaftung einfacher ist.
 

Was mindert die Qualität ökologischer Lebensräume sonst noch?
Pestizide gelangen über die Luft oder das Wasser bis in Schutzgebiete. Eingeschleppte invasive Pflanzen und Tiere können einheimische Arten verdrängen. Auch der Klimawandel ist ein Problem. Kälteliebende oder alpine Arten wie das Schneehuhn verlieren Lebensraum Flora und Fauna in Bedrängnis Wie der Klimawandel den Nationalpark verändert , dafür profitieren Arten aus dem Mittelmeerraum wie der Bienenfresser. Ein besonders grosser Negativtreiber ist der übermässige Eintrag von Stickstoff, der – verursacht durch die hohen Nutztierbestände – vor allem aus der Landwirtschaft stammt. Wenn man Wiesen düngt, die zuvor nie gedüngt worden sind, ist innert kurzer Zeit ein grosser Teil der bunten Blumen und Schmetterlinge weg. Zudem gelangt der Stickstoff über die Luft auch in Moore und Wälder, die nicht gedüngt werden dürfen, und bringt dort viele typische Arten zum Verschwinden. 


Was sind die Folgen?
Bis eine Art als ausgestorben deklariert werden muss, dauert es lange. Zuerst werden die Bestände kleiner, das Verbreitungsgebiet wird lückiger, der Genpool schmaler. Wenn eine Art ausstirbt, kann das zu einer Kettenreaktion führen. Problematisch ist das etwa, wenn die Nahrung einer stark spezialisierten Art wegfällt. So sammelt die Mauerbiene Hoplitis mitis nur auf einigen Glockenblumenarten Pollen. Verschwinden die Glockenblumen, verschwindet auch die Wildbienenart und mit ihr all jene Arten, die von ihr profitieren.
 

«Der grosse Teil der Subventionen stützt die Produktion und fördert die intensive Landwirtschaft. Das schadet der Biodiversität und ist auch ökonomisch ineffizient.»

Daniela Pauli, Leiterin Forum Biodiversität Schweiz

Können sich Ökosysteme anpassen?
In einem artenreichen Ökosystem können andere Arten die Funktion der ausgestorbenen manchmal ersetzen. Aber je mehr Löcher es im System gibt, desto fragiler wird es. Wie viele Arten ein Ökosystem im Minimum braucht, damit es noch funktionsfähig ist, wissen wir meist nicht. Und auch nicht, welche Arten welche Funktion haben. Manche werden plötzlich wichtig, wenn sich die Umweltbedingungen ändern. So konnten Wissenschaftler zeigen, dass der Walliser Schwingel, ein unscheinbares Gras in Bergregionen, an Erosionskanten überdauert und die Erde befestigt, wenn sie abzurutschen droht. Das hätte man ihm nicht zugetraut. 


Intensive Landwirtschaft schadet der Biodiversität. Was muss sich ändern? 
Der Hebel muss bei den Subventionen ansetzen. Auf der einen Seite bekommen Landwirte Geld, weil sie etwas für die Ökologie tun, Wiesen extensiv nutzen oder einen Blühstreifen anlegen. Der viel grössere Teil der Subventionen stützt aber die Produktion und fördert die intensive Landwirtschaft. Das schadet der Biodiversität und ist auch ökonomisch ineffizient. Solche Subventionen müssen umgelenkt werden.


Braucht es einen Ökocheck für Subventionen?
Ja, bevor man eine neue Subvention schafft, sollte man prüfen, ob sie der Biodiversität – oder dem Klima – schadet. Die Schweiz hat sich 2012 in der Strategie Biodiversität Schweiz verpflichtet, biodiversitätsschädigende Subventionen abzubauen oder umzulenken. Leider ist dann nichts mehr passiert, bis wir 2020 gemeinsam mit der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) aufgezeigt haben, dass es in der Schweiz über 160 biodiversitätsschädigende Subventionen gibt – in der Landwirtschaft, im Verkehr, in der Energieproduktion, der Siedlungsentwicklung und in vielen anderen Bereichen. Der Bund hat nun versprochen, die Ergebnisse weiterzuverfolgen und zu vertiefen. 
 

«Man darf die Klima- und die Biodiversitätskrise nicht gegeneinander ausspielen.»

Daniela Pauli, Leiterin Forum Biodiversität Schweiz

Heute wird kaum mehr angezweifelt, dass die Folgen des Klimawandels für Mensch und Umwelt gravierend sind. Ist im Vergleich dazu der Verlust der Biodiversität das kleinere Problem? 
Die Folgen des Klimawandels sind mittlerweile spür- und sichtbar. Aber ob eine Feldlerche singt oder nicht mehr, das bekommen nur wenige mit, weil viele die Feldlerche gar nicht mehr kennen. Das bedeutet aber nicht, dass die Biodiversitätskrise weniger schlimm ist. Die Wissenschaft spricht heute von einem echten Massenaussterben: Von acht Millionen bekannten Arten ist eine halbe bis eine Million vom Aussterben bedroht. Für den Menschen hat das gravierende Folgen.


Welche?
Wir sind abhängig von der Biodiversität und ihren Ökosystemleistungen, denn sie liefern uns sauberes Wasser, Nahrungsmittel, Wirkstoffe für Medikamente, schützen uns vor Naturkatastrophen und mindern den Klimawandel. Allgemein gilt: Je höher die Biodiversität, desto höher sind diese Leistungen. Zudem ist die riesige Artenvielfalt über Jahrmillionen entstanden, sie ist es wert, dass wir ihr Sorge tragen, allein schon weil sie existiert. Heute setzen sich viele Menschen für den Klimaschutz ein. Das Bewusstsein für die Biodiversität hinkt immer etwas nach. Doch man darf die beiden Krisen nicht gegeneinander ausspielen, sondern muss sie gemeinsam angehen, zumal sie sich gegenseitig verstärken.


Naturschutzorganisationen verzögern die Energiewende, indem sie Beschwerden gegen Bauprojekte einlegen , etwa gegen die Erhöhung der Grimselstaumauer. Ist das klug? 
Ich habe Mühe mit dem Vorwurf, Naturschutzorganisationen würden die Energiewende verhindern. Denn ich kenne keine einzige, die gegen sie ist. Sie erheben nur Einsprache, wenn die Verletzung von bestehendem Recht droht. Das ist auch beim Grimselprojekt so; es würde wertvolle Lebensräume und geschützte Landschaften beeinträchtigen. Man muss die Energiewende sehr sorgfältig umsetzen, damit man der Biodiversität nicht noch zusätzlich schadet.


Wie kann man solche Zielkonflikte entschärfen? 
Neue Kraftwerke sollten dort entstehen, wo bereits gebaut wurde. Man kann Sonnenkollektoren auf bestehende Gebäude montieren oder bestehende Anlagen besser ausnutzen, statt mit neuen Kleinwasserkraftwerken die letzten natürlichen Fliessgewässer zu verbauen. Der Aspekt der Biodiversität muss bei neuen Projekten von Anfang an einbezogen werden. Leider gibt es zwischen dem Klimaschutz und der Branche der erneuerbaren Energie auf der einen und dem Naturschutz auf der anderen Seite zu wenig Zusammenarbeit, auch in der Forschung. Beide Communitys müssen gemeinsam Lösungen entwickeln.
 

«Wir müssen den Ressourcenverbrauch deutlich reduzieren, damit wir die planetaren Grenzen respektieren.»

Daniela Pauli, Leiterin Forum Biodiversität Schweiz

Gibt es in Bezug auf die Biodiversität auch gute Nachrichten? 
Kantone und Gemeinden, Naturschutzorganisationen, Firmen und Privatpersonen werten Lebensräume auf: Sie renaturieren Gewässer, gestalten Gärten naturnah, pflanzen Hecken, errichten Strukturen, legen artenreiche Blumenwiesen an und stellen besonders gefährdeten Vogelarten wie dem Steinkauz Zu wenig Wildnis für Steinkauz & Co. Weggeputzt von der Schweizer Ordnungsliebe sichere Nisthilfen zur Verfügung. Viele Bauernfamilien arbeiten biodiversitätsschonend. Es passiert viel – ohne all diese Anstrengungen wäre die Situation noch viel schlimmer. Dennoch kommt es mir so vor, als sässen wir in einem sinkenden Boot. Was wir bisher geschafft haben, ist, etwas Wasser abzuschöpfen, damit das Boot langsamer sinkt. Für eine Trendwende müssen wir aber die grossen Löcher stopfen. 
 

Bringen naturnahe Gärten Umweltexperten im Interview «Man muss den Garten nicht gleich umgraben» etwas?  
Jede naturnahe Fläche bringt etwas. Einheimische Pflanzen setzen und ein bisschen Unordnung erlauben – und schon steigt die Insektenvielfalt. Man muss ja nicht den ganzen Garten zur Wildnis werden lassen, es ist schon hilfreich, wenn man einen Teil der Wiese nur ein- bis zweimal im Jahr schneidet und im Winter Pflanzenstängel stehen lässt, damit die Insekten darin überwintern können. 


Wie sinnvoll sind Insektenhotels?
Sie nützen nur wenigen Insektenarten. Viele Wildbienenarten nisten in unverputzten Mauern oder im Boden. Mit einem Streifen am Gartenzaun oder der Hausmauer entlang, wo der Boden offen bleibt, hilft man ihnen mehr als mit einem Insektenhotel. Wildbienen brauchen zudem neben einer Wohnung immer auch einen gedeckten Tisch: Sie brauchen Pollen und Nektar verschiedenster einheimischer Blütenpflanzen vom Frühjahr bis in den Herbst. 


Auch wenn all diese Bemühungen sinnvoll sind, für eine Trendwende braucht es mehr. Wie gelingt sie? 
Wir müssen die Biodiversitätshotspots, die es noch gibt, unbedingt erhalten. Doch diese Flächen allein reichen nicht aus, um die Trendwende zu erreichen: Die Erhaltung und Förderung der Biodiversität sollte auf rund einem Drittel der Fläche der Schweiz Vorrang haben. Zudem müssen wir die Probleme Stickstoffeintrag, Pestizide und Klimawandel angehen und die Biodiversität in der Landwirtschaft stärker fördern. Letztlich braucht es für eine Trendwende einen gesellschaftlichen Wandel: Wir müssen den Ressourcenverbrauch deutlich reduzieren, damit wir die planetaren Grenzen respektieren. Das ist der Schlüssel zur Bewältigung der Klima- wie der Biodiversitätskrise. 

Die Schweiz ist Schlusslicht

Eigentlich sollten die 2010 formulierten Aichi-Ziele für den weltweiten Biodiversitätsschutz bis 2020 erreicht werden – doch kein einziges Land hat das geschafft.

Darum haben sich 2021 in Kunming knapp 200 Staaten zum Kampf gegen das Artensterben bekannt, darunter auch die Schweiz. Sie hat eine der längsten «Mängellisten»: Über ein Drittel aller Arten und fast die Hälfte aller Lebensräume sind gefährdet. Seit 1900 gingen über 80 Prozent der Moorflächen und 95 Prozent der Trockenwiesen verloren.

Das hat mit der geringen Grösse der Schweiz zu tun, der Druck auf den Boden ist gerade im Mittelland sehr gross. Aber auch mit unseren Ansprüchen: Wir wollen günstige Nahrungsmittel, viel Fleisch essen, mobil sein, grosszügig wohnen und in der Freizeit in unberührter Natur unterwegs sein.

Die Biodiversitätsinitiative der Umweltverbände wurde 2020 eingereicht. Sie fordert unter anderem eine Ausweitung der Schutzgebiete und mehr Gelder der öffentlichen Hand für die Biodiversität. Dem Bundesrat geht der Vorschlag zu weit. Er möchte mit einem indirekten Gegenvorschlag das Ziel, 17 Prozent der Landesfläche als Schutzgebiete zu bestimmen, gesetzlich verankern. Aktuell liegt der Anteil dieser Schutzflächen in der Schweiz bei 13,4 Prozent.

Zur Person

Daniela Pauli leitet das Forum Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften in Bern

Daniela Pauli leitet das Forum Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften in Bern. Das Forum setzt sich für die Erhaltung, Förderung und nachhaltige Nutzung der Biodiversität in der Schweiz ein. Es bereitet vorhandenes Wissen auf und stellt es Behörden und Politik zur Verfügung. 

Quelle: Sandra Stampfli
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