Mitten in der Stadt, einen Katzensprung vom Winterthurer Bahnhof entfernt, wachsen Tulpen in grossen Holzkisten. Sie recken ihre Köpfe hinter einer Hecke, die sie vor den Blicken der vorbeieilenden Passanten schützt. Die Kisten gehören zum Blumenladen Grünraum. Die Tulpen, die darin gedeihen, sind Slowflowers, Blumen von hier.

Vor sieben Jahren übernahm Meisterfloristin Samantha Bühler den Grünraum und geschäftete wie ihre Vorgängerin konventionell. Die Schnittblumen, die sie an der Schweizer Blumenbörse in Wangen ZH bezog, kamen aus Afrika und Südamerika. In die Schweiz gelangten sie über die weltgrösste Blumenbörse im niederländischen Aalsmeer. Täglich werden dort mehr als 20 Millionen Schnittblumen und Topfpflanzen versteigert.

In Bühlers Laden gehen nicht alle Blumen und Pflanzen, die sie eingekauft hat, über die Verkaufstheke. Die übrig gebliebenen Schnittblumen trocknet oder kompostiert sie, die Stauden hingegen begann sie in ihrem dritten Jahr als Unternehmerin in ihrem Schrebergarten einzupflanzen. Bald gewöhnte sie sich an, vor Arbeitsbeginn auf dem Blätz Land Blumen zu schneiden und im Laden der Kundschaft anzubieten. «Mir gefiel das», sagt sie, «und ich überlegte, aus der eigenen Blumenproduktion einen Geschäftszweig zu machen.»

Import reduzieren

Die Pandemie verlieh ihrem Vorhaben Schub. Weil der Handel in Aalsmeer ins Stottern geriet, schwärmten die Grünraum-Floristinnen zu den Selbstpflück-Blumenfeldern rund um Winterthur aus und kauften dort einen Teil der Blumen, die sie brauchten, die anderen orderten sie bei lokalen Produzenten. «Ich wollte nicht mehr so stark vom Import abhängig sein», sagt Bühler. Mit diesem Entscheid legte sie den Grundstein für ihre eigene Schnittblumenproduktion.

Die Blumen, die in die Schweiz eingeführt werden – 2019 waren es rund 15'000 Tonnen –, werden mit Fungiziden und Pestiziden behandelt, die die Umwelt und die Gesundheit der oft schlecht bezahlten Angestellten auf den Blumenfarmen schädigen. Wenn sie geschnitten sind, spedieren sie Flugzeuge in alle Welt.

Nachhaltigkeit im Schnittblumenanbau war lange kaum ein Thema, bis Floristinnen und Gärtner Anfang der 2000er-Jahre in den USA die Slowflower-Bewegung gründeten. Deren Ziel: saisonaler und regionaler Anbau von Blumen. Slowflower-Mitglieder ziehen Pflanzen aus biologischem Saatgut, verzichten gänzlich auf mineralische Dünger und Pestizide und achten darauf, möglichst wenig Abfall zu produzieren. Sie verwenden demnach keinen Steckschaum und Einmalplastik nur dann, wenn es nicht anders geht.

Im Grünraum-Team fand nebst Chefin Bühler die Floristin Lisa Diana Gretener Gefallen an der Slowflower-Bewegung, die sich seit 2019 auch in Deutschland, Österreich und in der Schweiz verbreitet. Sie begann in der Grünraum-Dépendance, einem Treibhaus aus dem Jahr 1927, Setzlinge zu kultivieren. Im Winter, wenn sie die erste Vorkultur zieht, ist es hier kalt und zugig. Die Samen keimen deshalb in Saatschalen, die auf Styroporplatten stehen. An sehr kalten Tagen bekommen sie eine Haube aufgesetzt, werden mit Schutzwänden ummantelt und mit einem Heizkabel von unten gewärmt.

Lisa Diana Gretener vom Grünraum-Team verzichtet bei ihrer Arbeit auf mineralische Dünger und Pestizide. Welche Blume hat wann Saison? Das interessiert kaum jemanden. Die Slowflower-Bewegung will das ändern – mit saisonalen und regionalen Pflanzen.

Lisa Diana Gretener vom Grünraum-Team verzichtet bei ihrer Arbeit auf mineralische Dünger und Pestizide.

Quelle: Sandra Marusic

Damit die Pflänzli kräftig wachsen, mischt Gretener einen Mykorrhiza-Pilz in die Erde. Das fadenförmige Pilzgeflecht füttert die Sämlinge mit Nährstoffen und verbessert die Versorgung mit Wasser. Im Gegenzug bekommt der Pilz von den Setzlingen Zucker geliefert. Einen zusätzlichen Booster gibts mit sogenannten effektiven Mikroorganismen, einer von Gretener selbst fermentierten Bakterienmixtur. Sie macht die Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge widerstandsfähiger.

Wenn die Samen in den Aufzuchtschalen zu Sämlingen herangewachsen sind, werden sie pikiert, zur Abhärtung ins Freie gestellt und wenig später in Ottikon ZH ins Freiland gepflanzt. Hier, auf dem Blumenfeld in der Nähe der Kyburg, konnte Bühler vor zwei Jahren 600 Quadratmeter Land pachten.

27 Beete, viel Arbeit

Seit sie ihr Unternehmen um die Slowflowers erweitert hat, ist ihr Beruf nicht mehr derselbe. Bühler ist zur Flowerfarmerin geworden. 27 Beete legten sie und das dreiköpfige Slowflower-Team an. Sie bearbeiteten den Boden mit einer Fräse und harkten Gründüngung ein. Sie installierten ein Bewässerungssystem und legten eine abbaubare Biomulchfolie auf die Beete, damit das Unkraut nicht ungehindert wuchern kann.

Täglich kontrollieren sie im Treibhaus erst das Wachstum der Setzlinge und fahren dann aufs Blumenfeld. Sie laufen die Beete ab, schauen, welche Blumen sie bereits schneiden können, wann sie das nächste Mal mit Hornspänen und Pflanzenjauche düngen müssen und ob die Mäuse wieder Gänge angelegt haben, um an die Knollen und Zwiebeln von Anemonen und Ranunkeln zu gelangen.

Auf der Grünraum-Website macht ein Slowflower-Button auf die Bewegung aufmerksam. Ein vollwertiges Mitglied ist Bühlers Geschäft aber noch nicht. «Wir sind in der Umstellungsphase», sagt sie und verhehlt nicht, dass sie sich mit einigen der strikten Bedingungen schwertut. So dürfen Slowflower-Pflanzen weder künstlich belichtet noch beheizt werden. «Ohne Heizkabel würden unsere selbstgezogenen Pflänzli im kalten Treibhaus aber kaum überleben.» Auch auf Steckschaum kann sie nicht völlig verzichten. «Wir haben den Verbrauch um drei Viertel reduziert, aber ich bilde Lernende aus, die an der Lehrabschlussprüfung zeigen müssen, dass sie mit Steckschaum umgehen können, etwa um für Trauerfeiern Kränze oder Herzen zu machen.»

«Wir sind in der Umstellungsphase und ständig am Lernen.» – Samantha Bühler, Inhaberin Grünraum

«Wir sind in der Umstellungsphase und ständig am Lernen», sagt Samantha Bühler, Inhaberin Grünraum.

Quelle: Sandra Marusic

Angebot stetig erweitern

Bühler schätzt, dass der Anteil der Slowflowers in ihrem Laden 2022 rund 15 Prozent ausmachte. Dieses Jahr werden es mehr sein, die ersten hatte sie bereits im März im Angebot: Hyazinthen aus Winti, gewachsen in den Hochbeeten neben dem Laden. Auch in den Beeten auf der Blumenfarm spriessen die Setzlinge aus dem Treibhaus bereits kräftig. In den einen wachsen Anemonen, Skabiosen, Wicken, Knorpelmöhre und Rittersporn. In den anderen Kugeldisteln, Goldmelisse, Echinacea und Prachtspiere. Bühler will ihr Slowflower-Angebot Jahr um Jahr vergrössern – auf bis zu 70 Prozent.

Bis es so weit ist und während die saisonal schnittblumenlose Winterzeit andauert, fährt sie weiterhin zwei- bis dreimal pro Woche an die Blumenbörse in Wangen. Sie sagt: «Ich habe neun Angestellte, der Laden muss auch dann laufen, wenn hiesige Blumen nicht Saison haben.»

Blumen aus Südafrika – etwa Rosen mit Fair-Trade-Zertifikat – und aus den Niederlanden kauft sie allerdings nur noch von November bis Januar ein. Im Frühling, Sommer und Herbst ergänzt sie ihre Slowflowers mit Schnittblumen von Schweizer Produzenten und solchen aus dem nahen Ausland. «Wir würden gern nur Schweizer Blumen kaufen. Doch wir müssen einen Kompromiss machen. Zum einen weil hiesige Produzenten die Nachfrage nicht decken können, obwohl sie ihr Angebot seit der Pandemie erweitert haben. Zum anderen weil Schweizer Blumen teuer sind.»

Es ist gut möglich, dass Bühler dereinst nur noch auf Slowflowers setzen wird. «Wir sind ständig am Lernen», sagt sie. «Wer weiss, was in drei Jahren ist. Vielleicht werden unsere Kundinnen und Kunden dann im Winter statt Schnittblumen Grünpflanzen von Bioproduzenten kaufen können.»

Nachhaltige Blumen

Auf www.slowflower-bewegung.de zeigt eine Karte, welche Schweizer Floristinnen und Gärtner Slowflowers ziehen. Wer ausserhalb der Saison zu Hause einen Strauss in die Vase stellen will, erkundigt sich im Laden am besten, woher die Blumen kommen, oder kauft Blumen mit Fair-Trade-Zertifikat, etwa von Max Havelaar. Zwar verzichte die Stiftung beim Blumenanbau nicht auf Pestizide, verbiete aber hochgiftige und überarbeite regelmässig die Liste mit den verbotenen Mitteln, die Hazardous Materials List, sagt Melanie Dürr, bei Max Havelaar verantwortlich für Blumen und Pflanzen.

Um die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Max-Havelaar-Blumenfarmen zu schützen, erhalten alle Schutzanzüge. In Schulungen lernen sie, wie sie diese tragen, wie sie die Pestizide ausbringen müssen und wann sie das Gewächshaus gefahrlos wieder betreten können. Zudem kontrollieren Medical Officers die Gesundheit der Angestellten.