Albert Elmiger stapft durch dichten Wald und zeigt mit dem Wanderstock auf eine Gruppe malträtierter Fichten. «Die sind nicht mehr zu retten», sagt der Kantonsoberförster. «Die Hirsche reissen die Rinde stückweise ab.» Das schwächt die Bäume. Viele werden vom Fäulepilz befallen. Die Fichten im Appenzeller Weissbachtal sehen aus, als weinten sie Harztränen angesichts ihres langsamen Todes.

Der Hirsch ist in der Schweiz so zahlreich wie nie zuvor. Die Population wächst, obwohl die Jäger jedes Jahr noch mehr Tiere töten, um den Bestand einigermassen stabil zu halten. Mittlerweile schiessen sie doppelt so viele Tiere wie vor 20 Jahren. Trotzdem erobert der Hirsch laufend weitere Hügel und Wälder – auch weil er kaum natürliche Feinde wie den Wolf Raubtier Muss das Wallis mit dem Wolf leben? hat.
 

«Für den Hirsch ist eine junge Tanne wie ein Dessert.»

Albert Elmiger, Kantonsoberförster


Die Schweiz hat ein Hirschproblem, sagen Förster und Bauern. Insbesondere dort, wo sich die Tiere am wohlsten fühlen. In Jagdbanngebieten wie am Säntis, wo sie vor Jägern sicher sind. Der negative Einfluss des Hirschs auf den Wald werde beschönigt, schreibt Peter Brang von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft. Die Jagdverbote in den zahlreichen Banngebieten müssten überprüft werden, fordert er in der «Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen». «Sie waren das richtige Instrument, als Wildhuftiere selten waren – doch heute?»

Albert Elmiger will das nicht kommentieren. Sein Mittel gegen die Hirsche sind nicht Worte, sondern Zahlen. Dank seiner Datensammlung zur Waldverjüngung in Appenzell Innerrhoden kann er belegen, wie stark der Wald leidet. Im Säntis-Jagdbanngebiet zählen die Förster seit zehn Jahren, welche Baumarten nachwachsen und welche vom Wild abgefressen werden. Das Resultat ist ernüchternd: Die Tannen sterben. Hirsche, Rehe und Gämsen lieben sie zu sehr.

Naturschutz

In Appenzell Innerrhoden ist die Zeit des Streits vorbei: Jagdinspektor Ueli Nef (links) und Kantonsoberförster Albert Elmiger im Jagdbanngebiet Säntis.

Quelle: Thomas Egli

«Für den Hirsch ist eine junge Tanne wie ein Dessert. Praktisch alle Sprösslinge werden so stark verbissen, dass sie absterben. Wenn wir nichts unternehmen, haben wir hier irgendwann keine Tannen mehr. Das wäre verheerend», sagt Elmiger. Wegen ihrer tief reichenden Pfahlwurzeln sind die Tannen für die Schutzwälder im Weissbachtal von unschätzbarem Wert. Wenn es nur noch flachwurzelige Fichten gibt, schwindet die Schutzwirkung. Als Notmassnahme haben die Waldbesitzer einige Jungtannen eingezäunt. Doch selbst diese teure Massnahme nützt nur, solange der Schnee das Drahtgeflecht nicht niederdrückt.

Neben Oberförster Elmiger steht Jagdverwalter Ueli Nef mit seiner Hündin Nina. Er nimmt den Hirsch in Schutz: «Der Hirsch hält uns den Spiegel vor. Die Leute sahen hier in diesem Wald das Geld wachsen. Sie pflanzten viel zu dichte, unnatürliche Fichtenwälder, um grosse Holzernten einzufahren. Der Hirsch zeigt nur, dass das ein ungesunder Waldbau ist.» Ein natürlicher Wald habe viel mehr Lichtungen mit Jungbäumen und Gräsern. Die Tiere schälten die Fichten nur deshalb so stark, weil sie nirgends mehr Ruhe und Nahrung fänden. «Der Fehler liegt auch bei den Waldbesitzern», sagt der Innerrhoder Jagdverwalter. Forstingenieur Elmiger nickt. Der Kanton habe lange einen Fichtenholzmangel befürchtet und Anpflanzungen regelrecht erzwungen.


«Immer mehr Menschen bewegen sich in der Natur. Das hat einen grossen Einfluss auf die Wildtiere.»

Reto Rupf, Umweltplaner



Oberjäger Nef und Oberförster Elmiger wollen zeigen, dass in Innerrhoden die Zeit des Streits zwischen Förstern und Jägern vorbei ist. Dass sie keinen Mediator für Hirschsachen mehr brauchen – wie damals ihre Amtsvorgänger. Ihre Kantonsregierung hat als erste der Schweiz das Hirschproblem in Schutzgebieten angegangen – im Januar, mit einem 98-seitigen Massnahmenkatalog.

Im bedeutendsten Schweizer Hirschkanton fliegen dagegen weiter die Fetzen: Der Bündner Bauernverband fordert eine Reduktion des Hirschbestands von 16'000 auf 10'000 Tiere. Der Kantonale Jagdinspektor hält ein solches Gemetzel für tierschützerisch bedenklich und schlicht nicht umsetzbar.

Im Appenzellerland geht es zwar nur um rund 400 Hirsche, doch die Massnahmen haben es in sich: Der Bestand soll in den nächsten Jahren um ein Drittel reduziert werden. Selbst im Banngebiet dürfen Jäger unter Auflagen Hirsche schiessen. WWF und Pro Natura befürworten die Lösung.

Als ehemaliger Nationalparkwächter weiss Ueli Nef, dass das grosse Abschiessen schwierig wird. «Der Hirsch ist uns mit seinen Sinnen weit überlegen. Er lernt schnell, wird alt und gibt sein Wissen an den Nachwuchs weiter. Er ist das grösste einheimische Säugetier, der Elefant Mitteleuropas. Edel. Erhaben. Stolz.»

Naturschutz

Im Jagdbanngebiet Säntis (links) werden Hirsche trotz Schutz wieder gejagt. Aus dem Schaden, den Hirsche an Bäumen verursachen, enwickelt sich ein Fäulepilz (rechts).

Quelle: Thomas Egli

Wie schlau die Tiere sind, zeigt das Rothirschprojekt Rothirsch Die Rückkehr der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. 45 Hirsche wurden mit GPS-Halsbändern überwacht. Am ersten Jagdtag im September flüchteten die Tiere tief ins Säntis-Banngebiet und kamen erst bei Dämmerung wieder hervor, als die Jäger nicht mehr schiessen durften.

Zehn Hochsitze hat Nef zusammen mit den Innerrhoder Jägern deshalb im Banngebiet aufgestellt. 36 Hirsche haben sie bereits im Herbst von dort aus geschossen. In einer Zone, die vor mehr als hundert Jahren eingerichtet worden war, um das Wild vor Jägern zu schützen. Die Schüsse trieben die Hirsche in die Flucht, darum wurden auch ausserhalb des Schutzgebiets mehr Tiere erlegt. 96 waren es 2017. Doppelt so viele wie im Jahr davor.

Die streng regulierte Sonderjagd fand bloss auf einem kleinen Teil des Banngebiets statt. Dennoch gab es Jäger, die nicht teilnehmen wollten: «Das Banngebiet ist für mich ein sensibler Lebensraum», schrieb ein Jäger in einer Umfrage des Kantons. 90 Prozent der befragten Jäger begrüssen aber das Vorgehen. Auch wenn sie künftig auf der Pirsch wohl länger auf einen Hirsch warten müssen.

Rothirsche vermehren sich trotz Jagd

Mitte des 19. Jahrhunderts war der Rothirsch in der Schweiz ausgestorben. Vor 150 Jahren wanderten die ersten Tiere wieder ein. Inzwischen leben rund 37'000 Tiere in der Schweiz. Die Jäger schiessen zwar jedes Jahr mehr Hirsche, dennoch wird die Population immer grösser.

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.
Freizeitsportler bevölkern den Wald

Menschen nutzen den Wald intensiver und drängen in den Lebensraum der Wildtiere.

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.
Neue Lichtungen für die Tiere

Im September will Ueli Nef weitere 40 Hirsche im Banngebiet zum Abschuss freigeben. «Der Naturschutz muss lernen, mit seinem Erfolg umzugehen», sagt er. Die Situation sei nicht mehr dieselbe wie vor 100 Jahren. Pro Natura und WWF Appenzell stehen dem Ansinnen dennoch kritisch gegenüber. Sie loben zwar Ueli Nef für die rücksichtsvolle Jagdplanung. Ob sie erneut zustimmen, ist aber noch nicht klar.

Oberförster Albert Elmiger zeigt auf die gegenüberliegende Talseite, wo ein Seilkran im Minutentakt Fichtenstämme aus einem Steilhang befördert. «Das ist unsere Verjüngungsoffensive.» Sie ist Teil des Appenzeller Deals: ein Drittel weniger Hirsche gegen einen tierfreundlicheren Wald mit mehr Äsungsflächen. «Die Waldbesitzer holzen intensiv. Dadurch wachsen in neuen Lichtungen mehr junge Bäume und Gräser. Die Hirsche haben ein besseres Futterangebot und müssen keine Rinde mehr abnagen.»

Einige Tiere werden wohl ausserhalb Appenzells neue Nischen suchen. Die ruhigen Flecken werden für die Fernwanderer jedoch rarer, zeigen Studien mit GPS-Geräten. «Immer mehr Menschen bewegen sich in der Natur. Das hat einen grossen Einfluss auf die Wildtiere», sagt Professor Reto Rupf von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Die intensivere Nutzung des Walds und des Alpenraums führe zu einem Verlust an Lebensraum.

Der Hirsch ist jedoch zäh. Nicht einmal der harte Winter konnte ihm etwas anhaben. Im Wallis starben viele Gämsen und Steinböcke, nicht aber die Hirsche. Sie setzten sich in tiefere Lagen ab, in die schneearmen Südhänge des Goms. Im Frühling sind die Hirsche in den Aletschwald zurückgekehrt, wo sie ein Banngebiet vor Jägern schützt.

Nun fressen sie dort, was der geschützte Arvenwald hergibt. Der Kanton Wallis klärt deshalb in einer Studie ab, wer mehr Schutz benötigt: das Wild oder der Wald.

Hier haben Wildtiere ihre Ruhe

Wildruhezonen dürfen in bestimmten Jahreszeiten oder während des ganzen Jahres nur bedingt betreten werden. Menschen sollen die Tiere im Winter oder während der Brutzeit nicht stören. Jagdbanngebiete sind markierte Lebensräume, in denen Wildtiere nicht gejagt werden dürfen. Teilweise heissen sie Wildschutzgebiete. Die Anzahl Wildruhezonen wurde in den letzten sieben Jahren verdoppelt.

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.
Wie Hirsche den Wäldern schaden

Zu viele Wildtiere verhindern, dass Wälder gesund nachwachsen. Weil Rothirsche gerne Triebe junger Bäumchen fressen, wachsen diese verkrüppelt nach oder sterben ab (Verbiss). Ausserdem knabbern Hirsche die Rinde ab (Schälschaden) und reiben das Geweih an Bäumen (Fegeschaden). Beides macht die Bäume angreifbar für Krankheiten.

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.

Illustrationen: Anne Seeger

Woche für Woche direkt in Ihre Mailbox
«Woche für Woche direkt in Ihre Mailbox»
Jasmine Helbling, Redaktorin
Der Beobachter Newsletter