Gähnende Leere vor dem Zürcher Einkaufscenter Sihlcity. Der Wind weht eine weisse Plastiktüte über den Kalanderplatz, so symbolhaft wie die trockenen Steppenläufer im Hollywood-Western: Hier ist nichts los. Drinnen verrichten unterbeschäftigte Rolltreppen ihren Dienst, gelangweilte Verkäuferinnen büscheln Ware neu, und die Lautsprecherstimme, eine Promotion verkündend, verhallt ungehört in verwaisten Gängen – High Noon in der Mall.

Kinosäle statt Kleiderstangen

Dem Detailhandel geht es schlecht. Die Branche beklagt den grössten Umsatzeinbruch seit 40 Jahren. Die Mieter im Sihlcity haben im letzten Jahr 7 Millionen Franken weniger erwirtschaftet als im Vorjahr. 347 Millionen waren es 2015 noch. Der Konkurrenz geht es nicht besser. Von der Shopping-Arena in St. Gallen bis zum Centre Balexert in Genf zeigen die Zahlen überall nach unten. 

Fragt man die Betreiber nach den Gründen, ertönt das gängige Retail-Klagelied: starker Franken, Einkaufstourismus, Onlinekonkurrenz. Einigkeit herrscht darüber, wie man der Krise begegnen soll. Das Zauberwort heisst Einkaufserlebnis. Shoppingcenter sind tot, lang leben die Urban Lifestyle Center!

Rageth Clavadetscher.

Rageth Clavadetscher, Leiter des Glattzentrums nahe Zürich.

Quelle: PD (Pressedienst)

Einer, der diesen Ausdruck gerne verwendet, ist Rageth Clavadetscher, Leiter des Glattzentrums in Wallisellen ZH. Er sagt: «Die Digitalisierung vergisst den Menschen.» Hier müssten die Center ihre Trümpfe ausspielen. Mit Angeboten, die im Web nicht zu haben seien. «Ein Glas Prosecco können Sie unmöglich mit dem Röhrli aus dem Bildschirm saugen.»

Schweizweit gibt es rund 190 Shoppingcenter, eine der höchsten Dichten in Europa. Clavadetscher ist überzeugt, dass nicht alle überleben werden. Gleichzeitig glaubt er nicht daran, dass der stationäre Handel in naher Zukunft ganz wegrationalisiert wird. Er berichtet von einer Reise nach Japan, wo er statt auf Bildschirme starrender Nerds auf Menschen getroffen sei, die im Plattenladen tanzten und Bier tranken oder vor dem Jeansladen mit extra bereitgestellten Utensilien die individuelle Hose gestalteten. «Der Mensch will sich immer zeigen und austauschen», so der Center-Chef.

Ein modernes Shoppingcenter sei ein Marktplatz, der alles vereine: iPhone-Werkstatt, Zahnarzt, Abholstation für Online-Einkäufe, wo das Zalando-Hemd gebügelt wird. Den Kunden müsse permanent etwas mit Mehrwert geboten werden. «Ich will die wichtigste Weinmesse der Stadt, den grössten Schoggihasen und einen Käsereifekeller.» Weil ein hoher Servicelevel immer wichtiger würde, brauche es ein komplett neues Berufsverständnis. Aus Detailhandelsangestellten sollen Masters of Product werden. Konkret: Die Frau hinter der Fleischtheke kennt den Produzenten des Steaks, vielleicht sogar den Namen der Kuh – und das ideale Grillrezept.

Araber investieren in Luzerner Mall

Optimistisch ist man auch in Ebikon LU. Dort eröffnet im November die Mall of Switzerland, die «attraktives Shopping und pures Freizeitvergnügen an einem Ort» vereinen will. 

450 Millionen Franken investiert ein Staatsfonds aus Abu Dhabi. Von den 65'000 Quadratmetern Gesamtfläche werden 65 Prozent an Läden vermietet, 25 Prozent sind für Freizeitaktivitäten vorgesehen, 10 Prozent für Gastrobetriebe. Es wird ein Multiplexkino geben mit der landesweit grössten Kinoleinwand, eine Indoor-Surfanlage, ein Kinderland, ein Fitnesscenter mit Spa.

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Mall of Switzerland in Ebikon LU:  sozialer Hub oder Sanatorium?

Mall of Switzerland in Ebikon LU: sozialer Hub oder Sanatorium?

Quelle: PD (Pressedienst)

«Das Angebot geht über das reine Einkaufen hinaus», sagt der Marketingverantwortliche Nikolas Löhr. Das grösste Einkaufscenter der Innerschweiz werde als «Third Place» funktionieren, als dritter Ort neben dem Zuhause und dem Arbeitsplatz, an dem Menschen gerne Zeit verbringen.

Gemäss einer Studie von Marktforscher GfK sind in der Schweiz seit 2010 rund 5000 Verkaufsstellen verschwunden. Gleichzeitig böten heute über 10'000 einheimische Onlineshops Produkte und Dienstleistungen an. Jedes Jahr wächst der E-Commerce um über 6 Prozent.

Gerade für die Shoppingcenter ist diese Entwicklung ein Problem. Wenn Kaufhäuser Filialen abbauen, beginnt der Dominoeffekt zu spielen: Das Angebot schrumpft, die Frequenz nimmt ab, weitere Läden machen zu. In den USA spricht man inzwischen von einer «Retail-Apokalypse». Die Folge davon: Dead Malls, tote Einkaufscenter. In der Schweiz hat dieses Schicksal erst ein Kaufhaus ereilt, im Centro Ovale in Chiasso TI gingen die Lichter vor rund zwei Jahren endgültig aus. Als neuer Mieter fürs silberne Ei ist nun ausgerechnet die Onlinefirma Lastminute.com im Gespräch. Die Ironie der Disruption: Aus der toten Mall wird eine Digitalhochburg. 

«Massive Veränderung des Marktes»

Für E-Commerce-Experte Thomas Lang ist dieser Fall nur der Anfang. In seinem Blog schreibt er: «Shoppingcenter sind ein Auslaufmodell.» Das Konzept habe sich überlebt, der Zug sei abgefahren, und das unwiderruflich. Zwischen 2010 und 2016 hat der stationäre Handel im Non-Food-Bereich 8 Milliarden Franken verloren. Die grössten fünf Onlineshops der Schweiz würden bereits deutlich mehr Umsatz generieren als die grössten fünf Einkaufscenter, so Lang. «Wahre Warenhäuser sind heute online.» Dort sei der Kunde wirklich König und könne auf ein komplettes Angebot zurückgreifen, das ihm ein Shoppingcenter mit seinen limitierten Platzverhältnissen niemals bieten könne. Von der Strategie der Malls, Erlebniswelten zu kreieren, hält Lang überhaupt nichts. «Das ist wie Kutschen mit Spoilern auszustatten.»

Solche Grabreden hält Marcel Stoffel für unangebracht: «Das ist Unsinn.» Er ist Detailhandelsexperte, hat zehn Jahre bei Swatch gearbeitet. Danach war er ebenso lang Leiter des Einkaufszentrums Glatt. Heute berät «Mr. Shoppingcenter» Schweizer Mall-Betreiber und veröffentlicht jährlich einen Marktreport. 

2017 heissts etwa: «Fakt ist, es handelt sich bei der aktuellen Umsatzsituation nicht um eine temporäre Krise, sondern um eine massive Marktveränderung.» Früher funktionierte ein Shoppingcenter mit Facility-Management und massenhaft Einkaufswägeli. Diese Zeiten seien vorbei. «Heute sind Task-Forces gefragt, die an der strategischen Entwicklung tüfteln.» Neue Konzepte, um gegen die wachsende Onlinekonkurrenz zu bestehen.

Mit einem iPad auf der Theke und der Onlineadresse am Schaufenster sei es nicht getan. Ein Laden müsse nicht das Produkt ins Zentrum stellen, sondern eine Gesamtlösung. Beispiel Reformhaus: Wer Nüssli kauft, will eigentlich gesund leben. Im Shop erwartet er keinen Verkäufer, sondern einen Coach. «Der Detailhandel wird zur wichtigsten Nebensache im Shoppingcenter», sagt Stoffel. Er glaubt an eine Flurbereinigung in den nächsten Jahren. Überleben werden die grossen Malls und die kleinen Center, die eine wichtige Versorgerfunktion in ihrer Region erfüllten. «Für die mittelgrossen ohne scharfes Profil wird es hingegen schwierig.»

Die Amazon-Gefahr

Zwei Nachrichten aus den USA lassen erahnen, in welche Richtung es geht. Zum einen hat der Onlinehändler Amazon jüngst für knapp 14 Milliarden Dollar die Bio-Lebensmittel-Kette Whole Foods gekauft. Mit der Übernahme der über 450 Filialen startet Amazon einen Angriff auf den hart umkämpften Foodbereich. Kunden können künftig über ein und dieselbe Plattform Bio-Äpfel und SD-Speicherkarten bestellen und im Laden an der Ecke abholen – oder sich das Ganze per Drohne heimliefern lassen. Apple-Chef Tim Cook kündigte an der Juni-Keynote das nächste «grosse Ding» an: Augmented Reality (AR), sozusagen das Update der Realität. Die Funktion baut eine Brücke von der echten Welt in jene der Pixels und Bytes. Wer künftig wissen will, ob das neue Shirt aus dem H & M passt, geht nicht mehr in die Umkleidekabine – er schiesst am Arbeitsplatz ein Selfie, das die App mit dem Kleidungsstück kombiniert. Dank der AR-Funktion für alle neuen iPhones und iPads tragen plötzlich Millionen Nutzer die virtuelle Mall im Hosensack.

Ikea testet derzeit eine App, mit der man eine dreidimensionale Version des neuen Schranks in den eigenen vier Wänden testen kann. Ein Klick genügt, um den Kauf zu tätigen. Vorbei scheinen die mühsamen Samstagnachmittage im überfüllten Möbelhaus – und der Hotdog kommt womöglich bald aus dem 3-D-Drucker.

Bild-Handy

Einkaufen-App

Was trägt diese Passantin denn da? Ein Klick, und Kleid, Tasche oder Schuhe sind gekauft.

Quelle: Istockphoto (Montage Beobachter)

Zukunftsmusik? Nicht für Karin Frick vom Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon ZH. Ihr Think-Tank schreibt an einer neuen Studie, Arbeitstitel: «Vom Ende des Konsums». Das Zeitalter der Mall sei vorbei, der Handel von morgen finde in der Cloud statt, sagt sie. «Aus dem Konsumenten wird ein Nutzer, nicht das Produkt steht mehr im Vordergrund, sondern der Service.» Klassische Läden werde es schon bald nicht mehr geben, sagt Frick. Höchstens noch Showrooms, Schnittstellen zwischen On- und Offline. Und vielleicht noch ein paar Liebhaberläden für Leute, die gerne stöbern.

Der Begriff Shoppingerlebnis ist für Frick ein Widerspruch. «Was soll daran toll sein, im Gewimmel nach einer Packung Hörnli Ausschau zu halten?» Wer heute etwas erleben will, baut seinen Salat selber an und zelebriert das Kochen mit Freunden. Und was nicht im Gemüsebeet wächst, spuckt der Printer aus. «Technisch sind wir schon fast da», sagt die Zukunftsforscherin. Allein die Demografie sorge noch dafür, dass der Wandel nicht über Nacht geschehe. Es sei wie bei den gedruckten Zeitungen: «Ältere hängen an Gewohnheiten.» 

«Die Jungen hängen online rum»

Die Pläne der Shoppingcenter, Lifestyle-Hubs zu werden, muten für Karin Frick verzweifelt an. Auf Dauer sei das einfach zu teuer: stets neue Attraktionen, bessere Shows – bei sinkenden Umsätzen. Wer soll das bezahlen? Der Kunde ist nicht bereit, für ein Produkt tiefer in die Tasche zu greifen, nur weil er die Einkäufe neben einem pittoresken Wasserfall abwickeln kann. Gleichzeitig werde das Online-Erlebnis attraktiver, die Lieferlogistik ausgeklügelter. «Virtual Reality ist ein Game-Changer», sagt sie, «die Entmaterialisierung findet statt, das muss man wahrhaben.» Als Beleg führt Frick das Freizeitverhalten der Jugendlichen an: «Früher hingen sie in der Mall rum, heute im Internet.»

Am Wochenende füllt sich der Kalanderplatz vor dem Sihlcity, die Pop-up-Beiz ist gut besucht. Das Shoppingcenter mit Kulturlokal, Kinos, Ärztecenter, Bibliothek und eigener Kirche sieht gelassen in die Zukunft. «Es ist eine unglaubliche Nervosität da», sagt Leiterin Marianne Guldimann. Alle würden vom Internet reden, in den Läden beobachte sie aber das pure Gegenteil: Warenberge. «Diese sind immer noch ein Kundenbedürfnis.» Panik sei deshalb nicht angebracht. «Es wird noch ein bis zwei Jahre wehtun, dann wird es sich stabilisieren», sagt sie. «Hoffentlich.»

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