Sie haben ein Leben lang gearbeitet, sich weitergebildet, Steuern bezahlt. Und dann stehen sie kurz vor der Pensionierung am Rand der Gesellschaft. Wer mit über 55 die Stelle verliert, findet nur schwer in den Arbeitsmarkt zurück. Sehr schlechte Chancen hat, wer ausgesteuert ist Ausgesteuert Wenn kein Arbeitslosengeld mehr kommt – wie weiter? . Dann schafft es nur noch jeder Siebte zurück in den ersten Arbeitsmarkt (siehe Infografik am Artikelende).

Die Zahl lässt aufhorchen. Doch: «Das ist nur die Spitze des Eisbergs», sagt Felix Wolffers, Co-Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos).

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Und wenn Boris Zürcher, Leiter Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), sagt, dass die Quote der Sozialhilfeempfänger bei den über 55-Jährigen unter dem Durchschnitt liegt, so weckt das Wolffers’ Widerspruch: «Diese Zahlen zeigen nicht die wahre Dimension des Problems.» Längst nicht alle mit Anrecht auf Sozialhilfe Lebensunterhalt Sozialhilfe – was heisst das überhaupt? würden sie beziehen.

Daniel Neugart, Geschäftsführer des Arbeitnehmer- und Arbeitslosenverbands Save 50Plus, spricht gar von «Massen», die aus dem sozialen Auffangsystem verschwinden. «Die verdeckte Arbeitslosigkeit ist in dieser Altersgruppe riesig.»

 

30'110 Personen zwischen 55 und 64 waren 2016 auf Sozialhilfe angewiesen. Das sind 50 Prozent mehr als 2011.

Die logische Folge: Armut im Alter

Ein Beispiel dafür ist Otto Bachmann. Der einstige Manager hat sich nach Thailand abgesetzt, bevor er ausgesteuert wurde. Er sagt: «Wenn die Bevölkerung wüsste, wie viele Arbeitskräfte über 50 tatsächlich ohne Job sind, ginge ein Aufschrei durchs Land.»

Bachmann hat sich wie viele andere freiwillig aus dem Sozialstaat verabschiedet. Denn wer ausgesteuert ist, muss erst das Vermögen bis auf 4000 Franken aufbrauchen – unter Umständen samt dem PK-Kapital und dem Verkauf des Wohneigentums –, bevor er Sozialhilfe erhält. Armut im Alter ist die logische Folge.

Drei Betroffene im Kurzporträt

Wie viele Arbeitslose diesem Schicksal zu entrinnen versuchen, lässt sich nicht festmachen. Denn längst nicht alle, die eine Stelle suchen, sind in der Arbeitslosenquote enthalten. Über 55-Jährige ziehen sich deutlich häufiger als andere aus dem Arbeitsmarkt zurück und verschwinden deshalb aus den Statistiken, bilanziert eine Studie der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit. Sie leben etwa vom Ersparten, vom Lohn des Partners oder machen sich selbständig. Immer mehr setzen sich laut Daniel Neugart von Save 50Plus auch ins Ausland ab.

Mit 46 Jahren bereits zu alt

Jenen, die hierbleiben, macht der gesellschaftliche Abstieg zu schaffen. Um den Schein zu wahren, möchte Peter Bühler* nicht mit Namen in den Medien auftauchen. Er war 46, als er den Job verlor. Man plane ohne ihn, teilte man ihm nach fünf Jahren in der Firma in einer «Zwei-Minuten-Sitzung» mit.

Der heute 51-jährige Informatiker und Erwachsenenbildner erschrak zwar, war aber sicher, schnell wieder unterzukommen. Dann kam Absage um Absage. Dass er in seiner Branche mit 46 zum alten Eisen gehörte, sagte man ihm nie. Die Absagen enthielten die üblichen Floskeln. Die RAV-Beraterin schickte ihn in eine Sozialfirma. «Pseudoarbeit. Vorgesetzte, die viel weniger konnten als ich.» Als «demütigend» bezeichnet Bühler diese Erfahrung.

Das Wort «Fachkräftemangel» kann Bühler nicht mehr hören. «Wenn es den wirklich gibt, warum habe ich nicht längst wieder eine Stelle?» In einem der vielen Personalvermittlungsbüros, bei denen er sich angemeldet hat, sagte man ihm: «Wer in Ihrem Alter den Job verliert und nicht gleich wieder was findet, gehört zu den Losern. Vermittelbar ist man dann nicht mehr.»

Kurz vor der Aussteuerung meldete sich Bühler beim RAV ab. Er machte sich als Coach und Trainer selbständig. Seine Xing- und LinkedIn-Profile sind bis heute ohne Tadel. Doch er käme nicht über die Runden ohne sein Erspartes. Das schwindet allerdings rasch.

«Eine sozialpolitische Schande»

Als Leiter des Sozialamts Bern hört Felix Wolffers täglich Geschichten wie diese. Geschichten von Menschen, denen das ganze Leben wegbricht. Qualifizierte Berufsleute, die am Schluss ihrer Karriere als Müllmänner arbeiten, um nicht alles zu verlieren. Frauen, die sich mit Jobs auf Abruf über Wasser halten Arbeit auf Abruf Lassen Sie sich nicht alles gefallen! . Für Wolffers «eine sozialpolitische Schande».

«Unserer Wirtschaft geht es gut, sie braucht Fachkräfte, gleichzeitig schickt sie so viele Qualifizierte in die Sozialhilfe.» Wolffers und die Skos fordern daher, dass über 55-Jährige, die mindestens 20 Jahre lang gearbeitet haben, nicht mehr ausgesteuert werden. «Es ist Altersdiskriminierung, wenn fähige, arbeitswillige Personen keine Stelle mehr finden.»

Das sei «nicht zielführend», sagt Seco-Mann Zürcher. «Das Ziel muss die hohe Integration in den Arbeitsmarkt sein.» Der Skos-Vorschlag bewirke das Gegenteil: Je nach Verdienst käme dies für ältere Stellensuchende einer Frühpensionierung gleich . «Die Anreize zur Stellensuche werden durch eine unbefristete Leistungsdauer massiv geschmälert.»

Faire Statistik gefordert

Auf solche Aussagen reagiert Neugart von Save 50plus ungehalten. «Sie zeichnen ein Bild des faulen Arbeitslosen. Tatsache ist, dass die Leute alles tun, um wieder einen Job zu finden.» Genauso wichtig wie der Verbleib in der Arbeitslosenkasse wäre laut Neugart eine faire Statistik. «Das Problem betrifft bereits Leute ab Mitte 40», sagt er. «Lägen die realen Zahlen auf dem Tisch, wären Politik und Wirtschaft gezwungen, etwas zu tun.»

Neugart berät zwischen fünf und zehn Betroffene pro Tag. Ein Drittel davon sind ältere Arbeitnehmer, die noch einen Job haben. «Sie möchten wissen, was sie tun können, um auf dem Arbeitsmarkt attraktiv zu bleiben.» In seinen «My way 50plus»-Kursen lernen sie, wie man sich verkauft.

Aber auch, dass man bereit sein muss, Lohneinbussen in Kauf zu nehmen und oder mehrere Teilzeitjobs anzunehmen. «Entgegen den gängigen Vorurteilen stosse ich damit in aller Regel auf offene Ohren», sagt Daniel Neugart. «Die älteren Arbeitskräfte leisten ihren Teil. Jetzt lade ich Politik und Wirtschaft ein, mitzuziehen.»

Schlechtere Chancen

Diese Merkmale erschweren es Ausgesteuerten, wieder dauerhaft Arbeit zu finden:

  • über 55-jährig
  • weiblich
  • verheiratet
  • unterhaltspflichtig (gegenüber Kindern oder Partner)
  • Ausländer/-in

 

Bessere Chancen

Diese Merkmale erleichtern es Ausgesteuerten, wieder dauerhaft Arbeit zu finden:

  • 18- bis 24-jährig
  • männlich
  • ledig
  • nicht unterhaltspflichtig
  • Schweizer/-in  
Prisca Bernegger (58): Arbeitslos in Gossau ZH

Wenn Prisca Bernegger von ihrer Traumstelle spricht, strahlen ihre Augen. «Im Büro, gerne mit Kundenkontakt, am liebsten am Empfang.» Spricht man die 58-Jährige aber auf ihre aktuelle Lage an, wirkt sie verzweifelt. Vor drei Jahren hat sie ihre Stelle am Empfang eines Spitals verloren. Seither bekommt sie Absage um Absage. Obwohl sie breite Berufserfahrung mitbringt, sich zur Personalassistentin weitergebildet hat und bei regionalen Arbeitsvermittlungszentren gearbeitet hat.

Dank Jobs im Stundenlohn konnte sie die Rahmenfrist Zwischenverdienst Arbeitslos und doch arbeiten bei der Arbeitslosenkasse verlängern. Sie schränkte sich noch mehr ein, arbeitete als Putzfrau, suchte weiter nach einer fair bezahlten Bürostelle. «Mach das, mach dies, sagen alle. Ich mache, was ich kann, aber es fruchtet nicht.» Das mache müde.

 

«Es ist traurig, dass man in diesem reichen Land in meinem Alter keine Chance mehr bekommt.»

 

Bernegger besuchte jeden Weiterbildungskurs, den man ihr empfahl, ging aktiv auf Arbeitgeber zu, immer wieder versucht sie, ihr schrumpfendes Netzwerk zu aktivieren. Weiterbildungen zu machen sei keine Belastung, sagt sie. «Belastend ist, noch ein Diplom mehr im Portfolio zu haben und zu wissen, dass es nicht hilft.»

Die gut qualifizierte Bürofachfrau bewirbt sich heute auch auf Stellen in Tankstellenshops oder im Service, wird aber auch dort nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. «Ich habe mein Leben lang gearbeitet, zwei Kinder grossgezogen», sagt sie und schüttelt den Kopf. Inzwischen denkt sie darüber nach, sich ins Ausland abzusetzen Arbeitslos Taggelder im Ausland? , Tochter und Sohn unterstützen sie dabei. «Ich finde es traurig, dass man in diesem reichen Land in meinem Alter keine Chance mehr bekommt», sagt sie. Und dann: «Aber noch gebe ich nicht auf, ich bleibe dran.»

Prisca Bernegger
Quelle: Salvatore Vinci
Ursula Durrer (63) aus Luzern: Pilotin in New Mexico

Als Ursula Durrer 2001 mit Mann und Kind nach Albuquerque, New Mexico, zog, war ihre Welt in Ordnung. Sie hatte ihre Stabsstelle beim Bund gekündigt und folgte ihrem Mann, der für eine US-Flugfirma arbeitete, in die Staaten. Dort angekommen, machte die Luzernerin den Pilotenschein, flog bald selber Transport- und Passagierflugzeuge.

Dass sie schon bald «zu alt» für den Arbeitsmarkt Arbeitslos über 50 Einmal draussen, immer draussen? sein könnte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Sie war hoch qualifiziert, motiviert, und sie habe «viel Power». Nach der Scheidung kehrte sie 2011 – gerade 56 geworden – in die Schweiz zurück. «Eine schlimme Erfahrung», sagt sie heute. «Ich bewarb mich zuerst auf Stellen, die meinen Qualifikationen entsprachen, unter anderem beim Bund. Dann auf einfachere Bürostellen, dann auf Jobs im Gastgewerbe, im Tourismus.» Überall Absagen.

 

«In den USA werden Bewerbungen grundsätzlich ohne Altersangabe verschickt.»

 

Überqualifiziert, zu teuer und vor allem: zu alt. Als Durrer sich 2017 beim RAV anmelden wollte, sagte man ihr: «Mit 62 finden Sie in der Schweiz keine Stelle mehr.» Ein Schock sei das gewesen. «In den USA ist die Diskriminierung aufgrund des Alters verpönt», sagt sie. «Bewerbungen werden grundsätzlich ohne Altersangabe verschickt.»

Die Pilotin kehrte schweren Herzens in die USA zurück. Erst kürzlich erhielt sie Jobangebote von zwei grossen Airlines. Als sie am Telefon fragte, ob es ein Problem sei, dass sie 63 werde, sagte die HR-Verantwortliche: «Ich wüsste nicht warum.» Ihren Traum, in die Schweiz zurückzukehren, hat Durrer vorerst begraben. Sie unterrichtet jetzt in Albuquerque angehende Pilotinnen und Piloten.

Ursula Durrer
Quelle: Privat
Otto Bachmann (54) aus Zürich: Selbständiger in Thailand

Bis vor drei Jahren gab es in Otto Bachmanns beruflicher Karriere nur eine Richtung: nach oben. Mitte 2015 war er Mitglied der Unternehmensleitung der Office World AG. Dann die abrupte Kehrtwende – der neue CEO wollte auf ihn verzichten.

Er habe sich überhaupt keine Gedanken gemacht, sagt Bachmann rückblickend. «Ich hatte ein grosses Netzwerk, mein Leistungsausweis war beachtlich, und ich fühlte mich mit 53 auf dem Zenit meiner Leistungsfähigkeit.»

 

«Alles hätte ich irgendwie auf die Reihe gekriegt. Was mich wirklich fertigmachte, war der gesellschaftliche Abstieg.»

 

Der Fall war tief. Auf dem RAV sagte man dem Manager, auf seinem Niveau sei er kaum vermittelbar. Man riet ihm, sein privates Netzwerk zu nutzen. Mehrere Dutzend Stellenangebote im In- und Ausland gingen ein – alle auf Provisionsbasis, ohne fixen Lohn, ohne Sozialversicherungen. «Das Know-how erfahrener Führungskräfte wollen viele, eingestellt werden dann doch billigere Bewerber, meist aus dem Ausland», sagt er.

Früh bewarb sich Bachmann auch auf einfache Einkäuferstellen, auf administrative Jobs ohne Führungsverantwortung. Eingeladen wurde er nie. Und da der maximal versicherte Verdienst beim RAV begrenzt ist, erhielt er plötzlich nur noch halb so viel Lohn.

Der einstige Kadermann musste schauen, wie er die Steuern bezahlen konnte. «Das alles», sagt Otto Bachmann, «hätte ich irgendwie auf die Reihe gekriegt. Was mich wirklich fertigmachte, war der gesellschaftliche Abstieg.»

Als guter Steuerzahler und erfolgreicher Unternehmer sei er in der Gemeinde gern gesehen gewesen, im Freundeskreis jemand, den man um Rat fragte. Kaum arbeitslos, habe er Dinge erlebt, die er nicht für möglich gehalten habe: Auf gewissen Ämtern behandelte man ihn «wie einen Kriminellen».

 

«Wenn die Leute wüssten, wie viele über 50 ohne Job sind, ginge ein Aufschrei durchs Land.»

 

Es war ein «spontaner Entscheid in einem Moment grösster Frustration», der Otto Bachmann bewog, zusammen mit seiner thailändischen Partnerin auszuwandern. Damit, sagt er, sei er wie Tausende andere aus der Statistik verschwunden, so dass die offiziellen Arbeitslosenzahlen auf unter drei Prozent fallen konnten. «Wenn die Bevölkerung wüsste, wie viele Arbeitskräfte über 50 ohne Job sind, ginge ein Aufschrei durchs Land», ist der Zürcher überzeugt.

Er selber macht sich in Thailand gerade mit Permanent-Make-up-Studios selbständig. Eine Anstellung bekäme er wohl nicht. «Hier gibt es einen griffigen Inländervorrang», sagt Bachmann. Sein Lachen klingt bitter.

Otto Bachmann
Quelle: Privat
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