«Also ich habe bis zum Tag vor der Geburt voll gearbeitet» – diesen stolzen Satz musste sich Giulietta Martin von vielen anderen Müttern anhören. Sie schrieb in einem Blog, sie werde sich vier Wochen vor dem Geburtstermin krankschreiben lassen. Mit der Hebamme und der Gynäkologin habe sie das so geplant und auch ihren Chef frühzeitig informiert. Der habe es gerade noch hinbekommen, eine abschätzige Bemerkung zu verkneifen wie «Du bist doch schwanger und nicht krank».

Schuften, bis die Wehen kommen – das ist eine Schweizer Spezialität. Es gibt hier keinen vorgeburtlichen Mutterschutz.

Anders in den Nachbarländern:

  • In Deutschland dürfen Frauen ab sechs Wochen vor der voraussichtlichen Niederkunft nicht mehr arbeiten.
  • In Italien beträgt der vorgeburtliche Mutterschutz vier Wochen,
  • in Österreich acht,
  • in Grossbritannien sogar elf Wochen.

Frauen müssen sich dort nicht rechtfertigen, wieso sie vor der Geburt bei der Arbeit fehlen.

70 Prozent krankgeschrieben

Die meisten Hochschwangeren in der Schweiz müssen sich krankschreiben lassen. Denn sie können ganz einfach nicht mehr arbeiten. Einige müssen liegen, andere leiden unter Komplikationen, Kreislaufproblemen oder Erschöpfung. 70 Prozent der Schwangeren sind mindestens zwei Wochen vor Geburtstermin krankgeschrieben, viele schon früher. Nur jede sechste Frau arbeitet tatsächlich bis zur Geburt. Das zeigt eine Studie im Auftrag des Bundesrats.

Ob und wann eine Frau krankgeschrieben wird, hängt auch von der behandelnden Gynäkologin ab. Einige schreiben grosszügiger krank, andere sind strikter. Es ist oft Aushandlungssache. Aber nicht nur auf den Schwangeren lastet dadurch ein Druck, sondern auch auf den Frauenärzten. «Sie werden von Versicherern dazu angehalten, Schwangere nicht ohne Not krankzuschreiben», sagt SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen.

Sie will dieses System ändern. Letztes Jahr hat sie eine Motion für einen dreiwöchigen Mutterschutz vor der Niederkunft eingereicht. «Aktuell ist jede und jeder sich selber überlassen.» Das führe zu unfairen Lösungen.

Ausgerechnet Büroarbeit schadet

«Die Erwartung, dass Frauen bis zur Geburt arbeiten sollen, ist gesundheitlich nicht haltbar und in der Realität kaum möglich», schreibt Wasserfallen in ihrem Vorstoss. Die Fachwelt, vor allem Hebammen, Gynäkologen, Mütter- und Väterberaterinnen oder Pflegefachpersonen betonten: Es sei für den Geburtsverlauf und die Gesundheit von Mutter und Kind entscheidend, dass die Schwangere sich in Ruhe und mit möglichst wenig physischem oder psychischem Stress auf die Geburt vorbereiten kann. Paradoxerweise wirke sich aber vor allem eine sitzende und eher ruhige Büroarbeit negativ aus.

Auch für Arbeitgeber wäre ein vorgeburtlicher Mutterschaftsurlaub vorteilhaft, meint Nationalrätin Wasserfallen. Dann sei klar, ab wann und wie lange eine Schwangere ausfällt. So können Betriebe besser planen und Ausfälle reduzieren. Zudem könnten im aktuellen System unerwartete und zusätzliche Lohnkosten entstehen, weil Taggeldversicherungen erst nach einer Wartefrist zahlen. Besonders kleinere Betriebe würden darum von einer klaren Regelung profitieren.

Bundesrat sieht kein Handlungsbedarf

Im Ständerat wurde eine gleichlautende Motion im Juni abgelehnt, die Motion Wasserfallen ist im Nationalrat noch hängig. Die Forderungen nach einem vorgeburtlichen Mutterschutz erhalten breite Unterstützung in der Fachwelt und von vielen Frauen – doch politisch haben sie es schwer. Der Motion Wasserfallen droht ausserdem die Abschreibung, weil sie nach bald eineinhalb Jahren immer noch nicht behandelt wurde.

Gemäss Bundesrat besteht kein Handlungsbedarf. Er stützt sich bei dieser Einschätzung auf einen Bericht von 2017, der zum Schluss kommt, dass die meisten Frauen keine oder nur geringfügige Einkommenseinbussen hinnehmen müssen, wenn sie krankgeschrieben werden. Ein vorgeburtlicher Mutterschaftsurlaub dagegen würde «den finanziellen Rahmen sprengen», die Erwerbsersatzordnung müsste zusätzliche Kosten von rund 200 Millionen Franken decken.

Auch das heutige System koste, entgegnet Wasserfallen. Zuerst in den Betrieben, die für die ersten Kranktage der Angestellten selber aufkommen müssen, danach bei den Versicherungen.

Kosten für Firmen und Versicherungen

Der Arbeitgeberverband lehnt den vorgeburtlichen Mutterschutz aus einem anderen Grund ab: «Eine zusätzliche Versicherung für Absenzen während der letzten Wochen einer Schwangerschaft zahlt sich nur sehr beschränkt aus», sagt Lukas Müller-Brunner, Ressortleiter Sozialpolitik. Denn sie betreffe nur einen Teil der werdenden Mütter, müsse aber für alle abgeschlossen und finanziert werden. Ein Teil der Frauen könne in den letzten Wochen vor der Geburt noch arbeiten, andere hätten schon früher Beschwerden.

Eine individuelle Lösung, wie sie heute gilt, sei passender als eine, die dann nicht mal eingehalten werden könne. Manche Frauen würden ja schon deutlich vor den drei Wochen ausfallen, für andere sei ein Arbeitsstopp unnötig, so Müller-Brunner.

Wasserfallen sagt dazu, sogar bei komplikationsarmen Schwangerschaften sei es medizinisch nicht empfohlen, dass manche Frauen bis zur Geburt arbeiten. Das bereite Mutter und Kind unnötigen Stress. Mit dieser Einschätzung ist sie nicht allein. Denn während es bei einer Bundeslösung knorzt, tut sich einiges in den Kantonen und Städten.

Die Luzerner Stadtverwaltung führt per Anfang 2023 freiwillig einen dreiwöchigen Mutterschutz für ihre Mitarbeiterinnen ein – zusätzlich zu den 16 Wochen Mutterschaftsurlaub nach der Geburt. Die Stadtregierung argumentiert, ein Grossteil der Mitarbeiterinnen werde für die letzten Wochen vor der Geburt ohnehin krankgeschrieben. In der Stadt Zürich wird der Gemeinderat einen vergleichbaren Vorstoss noch vor der Sommerpause behandeln.

In Basel-Stadt wurde im April ein Vorstoss der EVP dem Regierungsrat überwiesen. In Basel-Land gibt es einen ähnlichen Vorschlag. Auf kantonaler Ebene kann dieser Mutterschutz allerdings nur für Kantonsangestellte umgesetzt werden. Die EVP Basel-Stadt würde darum eine nationale Lösung bevorzugen.

Lieber eine nationale Lösung

Flavia Wasserfallen ist erfreut, dass sich etwas bewegt. «Dass gewisse Kantone und Städte als Vorbild vorangehen, sehe ich als Chance. So haben wir Praxisbeispiele dafür, welche Vorteile ein vorgeburtlicher Mutterschutz bietet.» Sie ist aber überzeugt: Längerfristig braucht es eine nationale Lösung.

Auch in einzelnen Firmen hat ein Umdenken eingesetzt. Sie gehen auf eigene Faust voran. So bieten Roche und Novartis ihren Angestellten vier Wochen zusätzlichen Mutterschaftsurlaub zu den gesetzlich vorgegebenen 14 Wochen. Diese können bereits ab vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin bezogen werden. Die Zurich-Versicherung kennt eine ähnliche Regelung.

Viele Firmen haben eine Lösung eingeführt, mit der ein Teil des regulären Mutterschaftsurlaubs bereits vor der Geburt bezogen werden kann – dafür wird er nach der Geburt entsprechend gekürzt.

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