Es klingt fast zu schön um wahr zu sein: Bei der Firma Rheingans Digital Enabler im deutschen Bielefeld arbeiten die Angestellten nur noch fünf Stunden am Tag, bekommen aber den vollen Lohn. «Unsere Mitarbeiter sind zufriedener, weniger krank und motivierter», sagt Chef und Inhaber Lasse Rheingans. Erstaunlicherweise funktioniert das Modell auch ökonomisch: «Wir schaffen nicht weniger, die Auftragsbücher sind voll, unserer Firma läuft es gut.»

Der 5-Stunden-Tag der Software-Entwicklungsfirma aus Nordrhein-Westfalen ist das radikalste Beispiel einer Bewegung, die sagt: Weniger Arbeiten ist mehr. In Neuseeland etwa hat der Finanzdienstleister Perpetual Guardian allen seinen 240 Angestellten den Freitag freigegeben, wie bei Rheingans blieben Lohn und Ferienanspruch gleich. Auch dort war das Ergebnis nach zweimonatiger Testphase: Den Mitarbeitern ging es besser, was sie zuvor an fünf Tagen geschafft hatten, schafften sie auch in vier. Ähnliches berichten Pionier-Unternehmen aus den USA, England oder Österreich. Überall stieg durch die kürzeren Arbeitszeiten die Motivation, überall resultierte daraus eine bessere Arbeitsleistung.

Je länger, je leistungsschwächer

Arbeitsforscher überrascht das nicht. «Viel arbeiten heisst noch lange nicht viel leisten», sagt der Zürcher Arbeitspsychologe und Unternehmensberater Felix Frei. Seine Erfahrung ist: In vielen Büros arbeiten die Angestellten hauptsächlich Zeit ab, statt dass sie Leistungen erbringen, die für den Erfolg der Firma wichtig sind. Er nennt das andauernde Hin- und Her-Mailen, die unzähligen Sitzungen, das Herumdoktern an Powerpoint-Präsentationen, die nur für den eigenen Chef sind. Dazu kommen all die Ablenkungen, die der Computer in die Büros gebracht hat, wie Whatsapp, Facebook oder der kleine Online-Einkauf zwischendurch. Frei macht den Arbeitnehmern aber keinen Vorwurf. «Der Mensch kann nicht acht oder neun Stunden am Tag hochkonzentriert arbeiten, schon gar nicht fünf Tage am Stück.»

Tatsächlich wiesen etwa australische Forscher nach, dass bei Über-40-Jährigen schon ab einer Wochenarbeitszeit von mehr als 25 Stunden die kognitiven Fähigkeiten nachlassen: Die Probanden hatten weniger gute Ideen, waren unaufmerksam, lernten schlechter, konnten sich Neues schlechter merken und waren weniger in der Lage zu argumentieren. «Um auf die vorgeschriebenen 42 Stunden zu kommen, macht man dann einfach irgendwas», sagt Frei.

E-Mails nur noch einmal am Tag

Firmen wie jene von Lasse Rheingans versuchen einen anderen Weg. Sein Vorschlag an die Mitarbeiter war, lieber kurz und effektiv zu arbeiten statt lang und durchsetzt von Pausen Pausenregelung Diese Znüni-Pause haben Sie sich verdient . «Es ist doch schöner, sich zu Hause mit der Familie zu erholen statt vor dem Computer am Arbeitsplatz.» Damit seine Angestellten in fünf Stunden aber gleich viel leisten wie die Konkurrenz in acht, müssen sie effektiver sein.

Alles was viel Zeit frisst, aber wenig bringt, hat die Bielefelder Softwarefirma deshalb gestrichen: E-Mails werden nur noch einmal am Tag beantwortet, alle Chats und Messenger bleiben ausgeschaltet, für Sitzungen werden höchstens noch 20 Minuten eingeplant. Gearbeitet wird in der Regel von 8 bis 13 Uhr, «weil man nach dem Mittagessen ohnehin kaum gut arbeiten kann». Und der Schwatz unter Kollegen, der fürs Wohlbefinden im Büro doch auch wichtig ist? Den hält man bei Rheingans erst nach Feierabend ab.

Plötzlich Ideen in der Freizeit

«Die Arbeit ist sicher intensiver geworden», sagt Luca Anzaldo, der seit zwei Jahren bei Rheingans tätig ist. Dauerdruck empfindet der 26-Jährige aber nicht. Dann könnte er nicht kreativ sein, ist der Software-Entwickler überzeugt. Brauche man einmal etwas länger, dann dauere es eben länger, wie in jeder Firma. «Unser Ziel ist es nicht, auf Teufel komm raus effektiv zu sein, sondern in weniger Zeit mehr zu erreichen.»

Was nicht nur Anzaldo, sondern auch anderen seiner Kollegen und Kolleginnen aufgefallen ist: Weil sie mehr Freizeit haben, beschäftigen sie sich auch nach Feierabend gerne mit Arbeitsthemen Job und Privates trennen Wenn die Arbeit zu Hause weitergeht . Früher habe er keine Lust gehabt, sich am Abend nochmals vor den Computer zu setzen. Jetzt tüftelt er öfters an Applikationen für private Projekte herum, nachdem er bereits am Nachmittag die Einkäufe erledigt hat, danach Joggen ging und bei den Eltern zum Abendessen war. «Durch die freie Zeit werden kreative Potentiale freigesetzt, die sonst durch den langen Bürotag unterdrückt werden», ist Firmenchef Rheingans überzeugt.

Dem Familienvater ist es aber wichtig zu betonen, dass es nicht das Ziel sei, mehr Leistung aus den Leuten herauszuholen. «Ich habe nach Wegen gesucht, wie man Arbeit und Familie besser unter einem Hut bringt und die Burnout-Rate senkt.» Und natürlich will er auch ein attraktiver Arbeitgeber sein. Seit er vor eineinhalb Jahren das 5-Stunden-Modell eingeführt hat, ist seine Firma in den Medien stark präsent und die Bewerbungen nahmen deutlich zu.

Zufriedene Klienten, aber hohe Kosten

Tatsächlich wollen immer mehr Leute weniger arbeiten. Und das, obwohl rein stundenmässig so wenig gearbeitet wird, wie noch nie. In der Schweiz im Schnitt noch knapp 42 Stunden pro Woche bei einer Vollzeitstelle, in Deutschland und in Schweden knapp 40. In den 70er Jahren waren es hierzulande noch über 45 Stunden. Fakt ist aber: Viele fühlen sich überlastet. Das Arbeits- und das Privatleben beschleunigt sich laufend Stress Wenn man ständig auf der Überholspur lebt , die Agenden werden voller, die Anforderungen komplexer.

In Deutschland geben 80 Prozent aller Vollzeitangestellten an, sie seien dauerhaft gestresst, 20 Prozent beklagten bereits ein Burnout. Aber auch die Ansprüche steigen und die Frustrationstoleranz sinkt. Eine gute Work-Life-Balance gilt als integraler Bestandteil eines erfüllenden Lebensentwurfs. Arbeitspsychologe Frei sagt deshalb: «Bleibt die Wirtschaftslage gut und die Arbeitslosigkeit tief, werden die Firmen nicht darum herumkommen, ihre Arbeitsvorgaben zu hinterfragen und sie den Bedürfnissen der Leute anzupassen.»
 

«Ein sicherer Arbeitsplatz und ein guter Lohn ist den Menschen hierzulande mindestens so wichtig wie mehr Freizeit.»

Fredy Greuter, Schweizerischer Arbeitgeberverband


Was beim Softwareentwickler Rheingans oder dem neuseeländischen Finanzdienstleister funktioniert, ist allerdings nicht überall möglich. Ein Verkäufer oder eine Tram-Chauffeuse können ihre Aufgaben nicht in kürzerer Zeit erledigen, auch wenn sie effizienter arbeiten. Überlastung und das Bedürfnis nach mehr Freizeit kennen aber auch sie. In Schweden wurde deshalb wissenschaftlich getestet, was kürzere Arbeitszeiten für Folgen haben. Im Altersheim Svartedalen in Göteborg arbeiteten die Pfleger zwei Jahre lang nur noch sechs Stunden am Tag, 30 Stunden die Woche. Auch sie waren bald zufriedener als die Kollegen in den Referenzbetrieben und wurden deutlich weniger krank. Sie arbeiteten besser und die Altersheimbewohner fühlten sich sorgfältiger und umsichtiger umsorgt. Die Arbeitskosten aber stiegen stark an, weil das Heim mehr Leute einstellen musste. Trotz der vielen Vorteile kehrte man deshalb wieder zum alten Regime zurück.

In der Schweiz gar nicht gewünscht?

Für Fredy Greuter vom Schweizerischen Arbeitgeberverband ist dieser Entscheid nur logisch. «Das ist simple Ökonomie: Weniger arbeiten bei ungekürztem Lohn funktioniert nur, wenn die Arbeitsproduktivität proportional steigt.» Die Leistung derart zu steigern, dass damit der Zeitausfall kompensiert wird, sei aber nur in wenigen Einzelfällen möglich, auch in Büro- und Kreativ-Berufen nicht im grossen Stil. Fünf-Stunden-Tage- und Viertagewoche-Firmen würden deshalb Ausnahmen bleiben.

Den achteinhalb Stunden-Tag sieht Greuter als akzeptierten Kompromiss, der den Bedürfnissen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern entspreche. Umfragen zeigten, dass bis zu 90 Prozent der Schweizer mit ihrer Arbeitssituation zufrieden seien. «Ein sicherer Arbeitsplatz und ein guter Lohn ist den Menschen hierzulande mindestens so wichtig wie mehr Freizeit.» Als Beleg dafür nennt er die Abstimmung von 2013, als sich das Stimmvolk gegen sechs Wochen Ferien für alle aussprach, weil es andernfalls einen Schaden für die Wirtschaft befürchtete. Als abschreckendes Beispiel nennt Greuter auch Frankreich: Dort habe die Einführung der 35-Stunden-Woche zu mehr Arbeitslosigkeit geführt.

Auch die Gewerkschaften sind zurückhaltender geworden, wenn es darum geht, kürzere Arbeitszeiten einzufordern. Eine befristete Reduktion auf 28 Wochenstunden (bei teilweise gleichbleibendem Lohn), wie es die deutsche Gewerkschaft IG Metall letztes Jahr für ihre Branchen aushandelte, ist hierzulande kein Thema. Seitens der Parteien hat die SP zwar die 35-Stunden-Woche als Ziel definiert, viel unternommen hat sie dafür aber nicht. «Wir legen zurzeit den Schwerpunkt eher auf Lohnerhöhungen und den Vaterschaftsurlaub», sagt Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschafts-Dachverbands Travailsuisse und SP-Nationalrat.

Schweizer arbeiten bereits weniger

Anders als in Deutschland, Österreich, Schweden oder England findet sich in der Schweiz keine Firma, bei der die Angestellten deutlich unter 40 Stunden pro Woche arbeiten. Ein wichtiger Grund dürfte sein: Wir Schweizer arbeiten bereits weniger als unsere Nachbarn – zumindest, wenn man den Durchschnittswert der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden nimmt. Die Schweiz hat weltweit den höchsten Anteil an Teilzeitarbeitenden, nur Holland hat noch mehr. Die tatsächlich geleistete Arbeitszeit liegt bei 35 Stunden und 54 Minuten pro Woche, gut 40 Minuten weniger als in der EU und rund vier Stunden weniger als zum Beispiel in Griechenland.
 

«Weil die Unternehmen sich nicht eingestehen wollen, dass die Digitalisierung Arbeit vernichtet, erfinden sie zusätzliche.»

Felix Frei, Arbeitspsychologe und Unternehmensberater
 

In manchen Branchen ist Teilzeit bereits die Regel, vor allem im IT- und Kreativ-Bereich. Bei der Webagentur Liip etwa arbeitet die Mehrheit der 180 Angestellten in einem Pensum zwischen 50 und 90 Prozent. Wie Rheingans experimentiert auch Lipp mit neuen Arbeitsformen. Eine Geschäftsleitung gibt es nicht, und jeder Mitarbeiter kann sein Arbeitspensum vierteljährlich anpassen. Die Überlegungen hinter dem Modell Liip sind die gleichen wie bei Rheingans. Auch Liip-Mitbegründer Gerhard Andrey sagt: Nur ausgeruhte, zufriedene, selbstbestimmte Mitarbeiter sind produktiv und kreativ, und um Erfolg zu haben, muss das Verhältnis zwischen Arbeit, Familie und Freizeit stimmen.

Teilzeit als Privileg der Gutverdiener

Im Unterschied zu Rheingans' 5-Stunden-Vollzeit-Mitarbeiter sind die Teilzeitler von Liip aber nur Teilverdiener. Wie viele andere Schweizer Firmen profitiert die Webagentur somit gratis vom oft beobachteten Effekt, dass Teilzeitler (fast) gleich viel schaffen wie Vollzeitler, konzentrierter, motivierter und zufriedener sind. Anderseits machen die hiesigen Firmen Teilzeitarbeit für die breite Masse erst möglich. Zum einen, indem sie Teilzeitpensen überhaupt anbieten, Mehrkosten bei der Administration auf sich nehmen und Teilzeitler als vollwertige Arbeitnehmer betrachten , was im Ausland oft nicht der Fall ist. Zum anderen und vor allem: weil sie höhere Löhne zahlen. Denn Teilzeit wird erst dann zur Option, wenn ein 80-Prozent-Lohn zum Leben reicht. Auch bei diesem Modell gilt darum: Weniger arbeiten können in erster Linie gut bezahlte Kopfarbeiter.

Beim Gewerkschaftsdachverband Travailsuisse heisst es deswegen: «Wir müssen in allen Branchen auf Löhne hinarbeiten, die Teilzeit-Pensen ermöglichen, weil das ein grosses Bedürfnis ist.» Arbeitspsychologe Felix Frei hingegen findet: Die Schweiz und andere wohlhabende Länder müssen ihre Arbeits- und Lohnmodelle grundlegend überdenken. Schliesslich seien die (Selbst)-Erkenntnisse über motivierendes und gesundes, und darum produktives und erfolgreiches Arbeiten nicht nur für die IT- und Kreativ-Branche gültig.

«Bullshitjobs» statt mehr Freizeit

Die technische Entwicklung wird zudem viele Berufe verändern. Zum Beispiel die Pflege, wo künftig Roboter Medikamente abzählen können, oder das Chauffeurwesen, wo Busse, Trams und Züge bald selber fahren. Menschen braucht es in all diesen Bereichen immer noch, aber nicht mehr so viele. Und sie werden andere Aufgaben übernehmen müssen: Solche, die mehr Kreativität erfordern, mehr Hirnleistung, mehr Konzentration – Tätigkeiten, die man eben nicht acht Stunden täglich gut machen kann.

Gemäss Frei reagieren heute viele Firmen auf die Automatisierung, indem sie «Bullshitjobs» schaffen. Die Wortschöpfung stammt vom Anthropologen David Graeber und bezeichnet Jobs, die keinen Sinn ergeben. Als Beispiel nennt Frei die immer zahlreicheren Tätigkeiten, die mit Evaluation, Dokumentation, Codierung oder Qualitätsmanagement zu tun haben. «Weil die Unternehmen sich nicht eingestehen wollen, dass die Digitalisierung Arbeit vernichtet, erfinden sie zusätzliche.» Die Gewinne durch die höhere Arbeitsproduktivität versickern so als Lohnkosten für Jobs, die es gar nicht braucht. Für Frei wäre es sinnvoller, diese Gewinne in Form von Freizeit an die Arbeitnehmer weiterzugeben. «Denn zufriedene Mitarbeiter sind sicher wertvoller als einfach Beschäftigte.»

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