«Bergweg betreten auf eigene Gefahr» – wer auf den Grossen Mythen will, muss am grossen Warnschild vorbei. «Gute Schuhe erforderlich! Weg nicht verlassen! Kinder ans Seil nehmen!»

Gelesen werden die Tipps kaum.

Aufstieg an einem heissen Sonntag im Juni – der Felsweg ist steil, teils rutschig, oft gibt es exponierte Stellen. Wir kreuzen Frauen in Sneakers, Männer in profillosen Halbschuhen und engen Jeans.

Die gute Nachricht: keine Adiletten. Die schlechte: Einer tippt beim Abstieg auf dem Handy. Davor wird auf dem Schild nicht gewarnt.

«Solche Tafeln lesen sowieso meist nur Leute, die sich der Risiken bereits bewusst sind», sagt Monique Walter, Wanderexpertin bei der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU). «Es ist immer schwierig, diejenigen zu erreichen, die am meisten profitieren würden.»

Jedes Jahr verletzen sich im Schnitt fast 30'000 Personen beim Wandern, rund 5000 davon schwer, ausländische Gäste nicht miteingerechnet. Laut SAC wurden 2021 über 1500 Bergwandernde notfallmässig gerettet, inklusive Touristen. Pro Jahr sterben über 50 Menschen, Tendenz steigend. Die meisten verunfallen auf weiss-rot-weiss markierten Bergwanderwegen. Sie stolpern oder stürzen, in der Regel beim Abstieg. «Gemessen an den vier Millionen Wanderern pro Saison, passiert eigentlich wenig», sagt Walter. Und trotzdem wären einige Unfälle vermeidbar. 

Sich bloss keine Blösse geben

Die BfU befragte vor ein paar Jahren Bergwanderer. Resultat: Jeder Dritte war sich nicht bewusst, dass es dort exponierte Stellen mit Absturzgefahr geben kann. 15 Prozent bezeichneten sich als nicht besonders trittsicher, 17 Prozent trugen einfache Lauf- oder Turnschuhe. Die Hälfte der Befragten würde bei einer brenzligen Stelle trotz schlechtem Gefühl nicht umkehren. Riskant finden sie all das nicht. 

«Viele denken: Wandern kann jeder. Sie unterschätzen die Anforderungen und überschätzen die eigenen Fähigkeiten», sagt Wanderexpertin Walter. Das typische Unfallopfer sei über 50 und männlich. «Diese Wanderer haben vielleicht nicht bemerkt, dass sie keine 20 mehr sind, und wollen sich vor fitteren Kollegen keine Blösse geben.» 

So schlimm wie am Montblanc ist es zwar noch nicht. Dort patrouillieren im Sommer sogar Polizisten, um besonders Waghalsige zu stoppen. Doch auch Michael Wicki, Hüttenwart in der Tripolihütte am Pilatus, hat schon einiges erlebt. Viele kämen hoch, weil sie auf Instagram ein tolles Bild gesehen hätten, erzählt er. «Manche sind völlig am Limit, oft haben sie zu wenig Getränke dabei und sind so spät unterwegs, dass sie beim Abstieg in die Dämmerung geraten.» Und Vreni Bühler-Blum hat in ihrem Berggasthaus Oberstockenalp auch schon Gäste in Flipflops bewirtet. Zur Beiz am Stockhorn im Berner Oberland gelangt man nur auf einem Bergwanderweg, Marschzeit: eine halbe Stunde.

Zmittag auf dem Mythen, Käseplättli mit Aussicht. Auf die Zentralschweizer Seen, zig Gipfel, das wilde Treiben. Um das Gipfelkreuz tummeln sich Touristinnen und Touristen, sprechen russisch oder englisch. Darunter spielen Kinder mit Hunden, aufs Essen warten Ausflügler aus der ganzen Schweiz. Der Eindruck beim Aufstieg täuschte: Die meisten sind gut ausgerüstet. Sie tragen Wanderschuhe, Stöcke, Rucksack. Einzelne Sandalenpaare sind zu sehen. Einer sei mal barfuss hier hochgestürchelt, heisst es beim Restaurant. 

Dabei ist der Berg für Unfälle bekannt. «Es geschehen viele tödliche Bergunfälle am Grossen Mythen», weiss man beim SAC. Das habe mit den vielen Wandernden, aber auch mit der Topografie zu tun: «An anderen populären Wanderwegen, etwa auf der Rigi oder am Creux du Van, hat ein Sturz nicht gleich einen Absturz mit tödlichem Ausgang zur Folge.»

Vorbereitung ist das A und O

Gute Ausrüstung sei noch keine Garantie, sagt Monique Walter von der BfU: «Manche haben zwar teure Bergschuhe, sind aber die harten Sohlen nicht gewohnt. Sie wären mit Trekkingschuhen sicherer unterwegs.» Wichtig sei eine gute Vorbereitung: eine passende Tour wählen, die Route studieren, das Wetter prüfen, angemessene Kleidung wählen, den Rucksack sorgfältig packen (siehe «Tipps»).

Zwei Frauen am Nebentisch erfüllen jeden Punkt auf der Checkliste. Kein Wunder: Eine von ihnen war mal im berüchtigten 100er-Club. Mitglieder müssen den Grossen Mythen mindestens 100-mal pro Jahr besteigen. Sie habe sogar 147 Besteigungen geschafft – an einzelnen Tagen dreimal hintereinander hoch und runter. Zu dieser Jahreszeit sei der Grosse Mythen eine gute Trainingsstrecke für höhere Gipfel. Ob kurze oder lange Touren – eine Apotheke haben die Frauen immer dabei. Mit Decken, Kältespray und allem Drum und Dran. «Nicht nur für uns. Manchmal muss man ja auch anderen helfen.» 

Am Nachmittag leert sich die Aussichtsterrasse. Auch die beiden Wanderinnen machen sich wieder auf. Beim Restaurant treffen sie auf einen alten Freund aus dem 100er-Club. Er habe den grauen Star und sehe kaum noch was, klagt er. Dann hüpft er den Mythen runter, als wäre nichts. 

Tipps
  • Wie bereitet man sich auf eine Wanderung vor? Was gehört in den Rucksack? Die Checkliste hilft weiter.
  • Und einen Selbsttest der Beratungsstelle für Unfallverhütung finden Sie hier
Die Wander­signalisation

Signal für Wanderweg T1Wandern (T1) Keine speziellen Anforderungen, Schuhe mit griffiger Sohle empfohlen. Orientierung problemlos, Weg gut gebahnt und gesichert. Gelände flach oder leicht geneigt, keine Absturzgefahr.

Signal für Bergwanderweg T2-T3Bergwandern (T2) Schwindelfreiheit und Trittsicherheit zwingend, Trekkingschuhe empfohlen. Wege mit durchgehendem Trassee. Gelände teilweise steil, Absturzgefahr nicht ausgeschlossen.

Bergwandern (T3) Gute Trittsicherheit und Trekkingschuhe empfohlen. Wege nicht zwingend durchgehend. Sicherung von exponierten Stellen mit Seilen oder Ketten. Zum Teil Stellen mit Absturzgefahr, Geröllflächen, weglose Schrofen.

Signal für Alpinwanderweg T4-T6Alpinwandern (T4–T6) Alpine Erfahrung und entsprechende Ausrüstung sind zwingend. Wegloses Gelände, Schneefelder, Gletscher oder Geröllhalden, teils ohne sichtbaren Weg.

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