Bei leichten und mittelschweren Depressionen bekamen Betroffene in den letzten zwei Jahren nur IV-Renten, wenn sie eine «Therapieresistenz» beweisen konnten. Diese 2015 eingeführte Praxisänderung des Bundesgerichts stiess auf heftige Kritik (Beobachter-Artikel vom 12. September). «Dass eine Rente nur dann zugesprochen wird, wenn der ‹Schaden› nicht behoben werden kann, ist unbestritten», so Rechtsanwalt Ueli Kieser. «Doch wann das der Fall ist, wurde nie festgelegt. Schliesslich kann auf eine Therapie theoretisch immer noch eine weitere folgen.»

In einem Urteil vom 30. November wurde die Rechtsprechung nun geändert.

Was ändert sich für Betroffene?

Das Kriterium «Therapieresistenz» verliert in Zukunft an Bedeutung. Das Bundesgericht hält es in der Revision weder für sachlich noch medizinisch abgestützt: «Psychische Krankheiten lassen sich grundsätzlich nur beschränkt anhand objektiver Kriterien feststellen oder beweisen», heisst es im Urteil. Entscheidender als die Diagnose sei die Frage, wie sich eine Störung auf das Leben einer versicherten Person auswirkt.

Fortan soll dieselbe Rechtsprechung gelten wie bei Schmerzstörungen ohne erklärbare Ursache. So müssen die Gerichte in jedem Einzelfall sorgfältig und anhand von mehreren Indikatoren prüfen, welche Auswirkungen eine Depression auf die Arbeitsfähigkeit des Betroffenen hat. Dieser muss sich behandeln lassen und trägt weiterhin die Beweislast.

Das Urteil des Bundesgerichts bezieht sich allerdings nicht auf bereits erledigte Fälle. Was mit solchen geschieht, ist zurzeit noch offen. Eine Neuanmeldung bei der IV-Stelle könnte sich laut Kieser lohnen: Vielleicht ist sie dazu bereit, die Fälle der letzten zwei bis drei Jahre noch einmal zu prüfen.

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Quelle: Beobachter Edition
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