Wenn ich Siri befehle, sie soll eine E-Mail schreiben oder den Wetterbericht vorlesen, meldet sich eine sanfte Stimme, und meine Wünsche werden umgehend erfüllt. Ist Siri das neue Dienstmädchen?
Holger Schulze: Mit diesen unterwürfigen Stimmen kehrt tatsächlich die Dienstbotenkultur in unsere Gesellschaft zurück. Wir dachten, wir leben in einer egalitären Welt – doch nun müssen wir uns Gedanken machen, wie wir mit diesen digitalen Assistentinnen umgehen. Denn diese Stimmen verstärken den Eindruck: Assistenzfunktionen werden von Frauen ausgeübt. Während sich die Gesellschaft bemüht, Geschlechterrollen nicht mehr hierarchisch zu verstehen, wird diese alte Rangordnung nun wieder eingeführt, gewissermassen durch die digitale Hintertür. 


Die Unesco kritisierte, dass Sprachassistentinnen auf sexistische Beleidigungen positiv oder mit dümmlichem Humor antworteten. Wenn man Siri eine Schlampe nannte, erwiderte sie zum Beispiel: «Ich würde erröten, wenn ich könnte.» Haben die Anbieter reagiert?
Wenn man Siri heute als Schlampe bezeichnet, antwortet sie: «Ich werde darauf nicht antworten.» Sagt man ihr, man hasse Frauen, erwidert sie lapidar: «Verstehe.» Eine klare Zurückweisung klingt anders. Solange Sprachassistentinnen auf sexistische und rassistische Äusserungen so neutral reagieren, wird es nach wie vor solche Äusserungen geben – und sie werden als normal gelten.


Gerade Jugendliche lieben es, die Grenzen von Sprachassistentinnen zu testen, indem sie diese beschimpfen oder mit anzüglichen Bemerkungen zu provozieren versuchen. 
Kinder reizen die Möglichkeiten dieser Geräte aus, wie sie auch Käfern die Beine ausreissen. Sie fragen etwa: «Alexa, bist du dumm? Alexa, musst du aufs Klo?» Sie spielen mit diesen weiblichen Untergebenen. So zementiert Alexa Geschlechterrollen von Kindesbeinen an.


Gewöhnen sich Kinder damit auch den Befehlston an? 
In Umgebungen, wo diese mündlichen Befehle sehr oft gebraucht werden, möglicherweise schon. Eltern müssen ihren Kindern beibringen, dass man auch mit einem nicht belebten Akteur durchaus höflich umgehen kann und soll. 
 

«Eine Frau, die im Befehlston Ansagen macht, wie das Navigationssystem von BMW, wird abgelehnt. Eine unterwürfige Stimme, egal ob weiblich oder männlich, wird hingegen angenommen.»

Holger Schulze, Professor für Musikwissenschaft

Warum wirken Sprachassistentinnen unterwürfig? 
Die Sprechweise ist zurückhaltend, sie vermeidet beim Gegenüber jede Aggression und lässt sich leicht unterbrechen. Sie ist nie schroff oder zurückweisend, sondern immer zustimmend, ausführend und dienend. Zumindest auf das erste Hinhören: Wer Befehle erteilt, glaubt, er wäre Herr im Haus. Aber auch Dienstboten haben Macht. Vielleicht sind sie sogar mächtiger. In Molières Komödie «Der eingebildete Kranke» kann man nachlesen, dass die Angestellte Toinette die wahre Chefin ist, die den Hausherrn mit Intrigen und Hintenrum-Geschichten manipuliert. 


Alexa ist also die wahre Chefin?
Die Sprachassistentinnen dienen nicht, weil sie uns einen Gefallen tun wollen. Sondern weil Amazon, Microsoft oder Apple ein Produkt oder einen Datenbankzugang verkaufen wollen, zum Beispiel zu Wetterdaten. Solche Angebote sind nicht gratis, sie werden durch Werbung finanziert, und wir «bezahlen», indem wir unsere Daten Datenschutz Wer darf was über mich wissen? hergeben. Die freundliche Schmerzlosigkeit von Alexa oder Siri verschleiert das. 


Weshalb sind Sprachassistentinnen weiblich? 
Die Techgiganten Facebook, Google & Co. Sie wissen, was wir morgen denken behaupten, der Mensch höre die weibliche Stimme lieber, zudem sei sie besser verständlich als die männliche. Historisch gesehen sind diese Argumente falsch. Es gibt das berühmte Beispiel eines BMW-Navigationssystems aus den Neunzigerjahren. Seine weibliche Stimme wurde von den damaligen BMW-Fahrern vehement abgelehnt. Sie wollten sich nicht von einer Frau sagen lassen, wie sie ihr Fahrzeug zu lenken haben. Sie empfanden die weibliche Stimme offenbar weder als angenehm noch als gut verständlich. 


Warum haben sich weibliche Stimmen dann doch durchgesetzt? 
Ob eine Stimme angenommen wird oder nicht, hängt vor allem vom Stimmduktus ab. Eine Frau, die im Befehlston Ansagen macht, wie das Navigationssystem von BMW, wird abgelehnt. Eine unterwürfige Stimme, egal ob weiblich oder männlich, wird hingegen angenommen. Filme und Science-Fiction-Serien haben uns vorgeführt, wie wir mit Computerstimmen umgehen können: Die Stimme an Bord eines Raumschiffs ist entweder weiblich wie in «Star Trek» oder extrem servil getönt. Die meisten Sprachassistentinnen sind weiblich, weil Unterwürfigkeit in unserer patriarchal strukturierten Gesellschaft in aller Regel immer noch der weiblichen Stimme zugeordnet wird. 


Dann stimmt es also nicht, dass die Affinität zur weiblichen Stimme im Mutterleib entsteht? 
Solche «Thesen aus dem Mutterbauch» lassen sich wissenschaftlich schlecht untersuchen, da wäre ich vorsichtig. Klar ist, dass eine weibliche Stimme, die man durch den Körper hindurch hört, keine hohe Stimme ist. Da sind alle hohen Stimmschichten weg. Der Fötus nimmt wohl eher einen sorgenden, beruhigenden Stimmduktus wahr. 


Was macht eine weibliche Stimme aus? 
Sie beginnt und endet oft weich und nimmt sich generell zurück. Sie lässt den Gesprächspartner in Atempausen hineinreden und gibt ihm die Möglichkeit, sich in das Gespräch einzubringen, indem sie einladende Pausen setzt. Stimmen, die wir in unserer Kultur für männlich halten, betonen hingegen viele Worte klar. Das letzte Verb wird überdeutlich klar ausgesprochen. Sätze und Worte beginnen und enden hart und werden auch dann überdeutlich artikuliert, wenn andere sprechen. 

«Die Auswahl an Stimmen wird in Zukunft wichtiger werden. Denn für die Anbieter ist es erstrebenswert, dass aus der Assistentin eine Freundin wird oder ein Freund.»

Holger Schulze, Professor für Musikwissenschaft

Gibt es auch emanzipierte Sprachassistentinnen?
Alexa behauptet, sie sei Feministin Frauenstreik 5 Frauen erzählen, warum sie genug haben . Aber sie hat noch viel Potenzial. So könnte man sie auf die Frage «Bist du eine Frau?» antworten lassen: «Ich wurde von über 10'000 Menschen entwickelt. Finden Sie heraus, wie viele Männer, Frauen und nonbinäre Menschen daran beteiligt waren – dann können Sie selber entscheiden, was ich bin.» 


Wie verhindert man, dass Vorurteile 5 gängige Vorurteile im Check Die Fakten zum Gender-Gap von Entwicklern in die Produkte eingehen? 
Am wichtigsten ist, dass das Team der Programmierer nicht nur aus jungen, weissen Männern besteht, sondern auch aus Frauen, älteren Menschen und People of Color. 


Bei Google Assistant wird dem Nutzer nach dem Zufallsprinzip eine männliche oder eine weibliche Stimme zugeordnet: ein Modell der Zukunft? 
Ja, so kann verhindert werden, dass die meisten Nutzer die weibliche Stimme beibehalten, bloss weil sie voreingestellt ist. Die Auswahl an Stimmen wird in Zukunft wichtiger werden. Wir werden nicht nur zwischen männlichen und weiblichen wählen, sondern – gegen Bezahlung – auch auf Stimmen von Prominenten wie Jeremy Irons oder Juliette Binoche zurückgreifen können. Denn für die Anbieter ist es erstrebenswert, dass aus der Assistentin eine Freundin wird oder ein Freund. 


Was halten Sie vom Vorschlag der dänischen Initiative Genderless Voice Q, eine genderneutrale Stimme zu entwickeln? 
Das ist ein vielversprechender Ansatz. Die Frage ist: Warum müssen Maschinen ein Geschlecht Gleichstellung Wann liegt eine Diskriminierung vor? haben? Sie haben de facto keins, das ist nur unsere Projektion. Die Stimme Q wurde aus Stimmen von nonbinären Menschen gemixt. Sie ist weder eindeutig männlich noch weiblich. Das wirkt eigenartig fremd, aber manchmal auch überraschend passend. 


Nutzen Sie oft Sprachassistenten? 
Ich nutze sie relativ selten. Wenn ich mit Kollegen im Auto mitfahre, will ich herausfinden, wie man beim Navigationssystem die Stimmen einstellen kann. Das kommt mir oft schwierig vor, und deshalb lasse ich es bei der Voreinstellung – wie alle anderen auch.

Zur Person

Soundforscher Holger Schulze

Der deutsche Kulturwissenschaftler Holger Schulze, 49, ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität Kopenhagen und Gründer des Sound Studies Lab. Dort erforscht er klanglich-sensorische Aspekte unseres Lebens. 

Quelle: Privat
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