Überblick zum Artikel

1. Die Gefährdungsmeldung

Im September 2019 meldet sich die Grossmutter von Leonie und Ryan (beide Namen geändert) bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb). Leonie, sechs, gehe ungekämmt und in schmutzigen Kleidern zur Schule. Die Kinder bekämen kein Frühstück. Ihre Tochter vernachlässige die Kinder. Janine H. (Name geändert) ist die besagte Tochter. «Es war schlimm, dass mich die eigene Mutter bei der Kesb angeschwärzt hatte», sagt die 33-Jährige. Die Vorwürfe bestreitet sie. «Meine Mutter wollte mich einfach nur kontrollieren.»

Am Anfang eines Verfahrens vor der Kesb steht meistens eine Gefährdungsmeldung. Wer Anhaltspunkte hat, dass ein Kind vernachlässigt wird oder hilfsbedürftig ist, kann das der Kesb melden. «Idealerweise hat man vorher selbst versucht zu helfen», sagt Experte Walter Noser, tätig bei der Kesb Winterthur-Andelfingen. «Wenn das nicht geht, ist es Zivilcourage, wenn man es der Kesb meldet.»

Einige Personen sind sogar verpflichtet, Meldung zu machen. Das Gesetz spricht von «Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Pflege, Betreuung, Erziehung, Bildung, Sozialberatung, Religion und Sport, die beruflich regelmässig Kontakt zu Kindern haben». Das können also Lehrerinnen, Kinderärzte oder Trainer sein, wenn sie etwas bemerken.

Eine Gefährdungsmeldung kann man telefonisch oder schriftlich machen, wie das Musterbeispiel unten zeigt. Auf der Website einiger Kesb gibt es dafür auch Onlineformulare. Bei der Meldung muss man nichts beweisen, sie kann sogar anonym erfolgen Kindsmisshandlung Anonyme Anzeige? . Das ist allerdings nicht ratsam, weil die Kesb dann keine Rückfragen stellen kann. Die Kesb muss ausnahmslos jeder Gefährdungsmeldung nachgehen. «Die Kesb macht immer etwas – ähnlich wie die Polizei oder die Feuerwehr. Die können auch nicht sagen, dass es vielleicht gar nicht so schlimm sei», sagt Noser.

2. Die Abklärungen

Zwei Wochen nach der Gefährdungsmeldung klingeln zwei Kesb-Mitarbeiterinnen unangekündigt an Janine H.s Tür. In den Akten steht später, die Wohnung habe einen unordentlichen und schmuddeligen Eindruck gemacht. Die Böden seien schmutzig, die Fenster stark verschmiert gewesen. In der Küche habe Geschirr herumgelegen. Im Kühlschrank habe es keine Früchte gegeben, aber eine offene Milchpackung, Salami und Wienerli. Leonie habe vif gewirkt, der dreijährige Ryan habe Aufmerksamkeit gesucht.

«Die Schilderungen der Mitarbeiterinnen waren übertrieben», sagt Janine H. Bei der Kesb sei sie von Anfang an abgestempelt gewesen. Tatsächlich hatte ihre Tochter Leonie als Baby bereits einmal einen Beistand. Damals lebte Janine H. mit dem Vater der Kinder zusammen, und es gab viel Streit.

Nach dem Hausbesuch trifft die Kesb weitere Abklärungen. Sie fragt beim Kinderarzt nach und informiert sich bei Ryans Kita. Ungewöhnliches stellten diese nicht fest.

Die Kesb muss allen Vorwürfen in der Gefährdungsmeldung nachgehen. Wie, ist ihr überlassen und hängt vom konkreten Einzelfall ab. Die Kesb kann zum Beispiel bei einer Schul- oder Kita-Leitung nachfragen. Sie kann mit Familienangehörigen sprechen – oder mit anderen Personen, die Einblick in die Familienverhältnisse haben. Sie kann die Betroffenen auch zu Hause besuchen – in der Regel kündigt sie das vorher an.

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3. Die Anhörung

Nachdem sie die Vorwürfe abgeklärt hat, hört die Kesb auch Mutter Janine H. und Leonie an. Ryan ist dafür noch zu klein. Janine H. will keine Massnahmen. Die Tochter sagt, sie stehe morgens selbst auf und mache für sich und den Bruder das Frühstück. Die Kesb stellt fest, dass die Mutter eine liebevolle Beziehung zu den Kindern pflegt.

Zu den Abklärungen gehört ebenfalls, die betroffenen Personen anzuhören. Erst danach darf die Kesb über konkrete Massnahmen entscheiden. Die Anhörung findet in der Regel in den Kesb-Büros statt. Eine Mitarbeiterin erläutert, was die Abklärungen ergeben haben, und erklärt die nächsten Schritte. Die Betroffenen können sich äussern und selbst Massnahmen vorschlagen. Auch Kinder ab sechs Jahren werden grundsätzlich angehört. So hat es das Bundesgericht entschieden.

Die Kesb schickt den Kindern eine an sie persönlich adressierte Einladung, in der der Zweck der Anhörung altersgerecht formuliert wird. Die Kesb hört das Kind allein an. Dabei will man herausfinden, was das Kind benötigt und wovor es sich möglicherweise fürchtet.

Wenn ein Kind nicht sprechen will, wird das akzeptiert. Die Kesb muss aber nachhaken und abklären, ob es freiwillig nichts sagen will oder womöglich von einem Elternteil beeinflusst wurde.

Alle Anhörungen werden protokolliert und zu den Akten gelegt. Diese können die Beteiligten jederzeit einsehen Einsichtsrecht Darf ich meine Akten bei der Kesb anschauen? . Fachmann Walter Noser empfiehlt Betroffenen unbedingt, beim Verfahren mitzuwirken und alle Termine wahrzunehmen: «Die Kesb muss entscheiden – egal, ob die Betroffenen mitmachen oder nicht. Je eher sie es tun, desto grösser ist die Chance, dass der Entscheid am Schluss in ihrem Sinn ist.»

4. Der Entscheid

Anfang November 2019 ordnet die Kesb eine Beistandschaft für Leonie und Ryan an. Die Beiständin soll überwachen, ob sich die Kinder gut entwickeln, wenn nötig zwischen den zerstrittenen Eltern vermitteln und Janine H. bei der Erziehung unterstützen. Für diese Unterstützung setzt die Beiständin eine sozialpädagogische Familienbegleiterin ein. Diese besucht Janine H. zu Hause und soll sie vor Ort beraten.

Die Kesb entscheidet nach der Anhörung, ob Massnahmen nötig sind oder nicht. Die Massnahmen teilt sie den Betroffenen in einer schriftlichen Verfügung mit. Darin kann es zum Beispiel heissen, dass sich die Eltern beraten lassen müssen.

Die Kesb kann den Eltern auch konkrete Weisungen erteilen, wie etwa regelmässig zum Kinderarzt zu gehen oder Fotos von sozialen Netzwerken Social Media Wer hat etwas gegen süsse Kinderfotos? zu entfernen.

Wenn das nicht reicht, ernennt die Kesb in der Regel eine Beistandsperson. Sie soll die Eltern in erster Linie unterstützen. In der Verfügung steht genau, für welche Aufgaben sie zuständig ist – etwa dafür, Unterhaltsbeiträge einzutreiben. Die Beistandspersonen haben häufig einen sozialpädagogischen Hintergrund.

Wenn die Eltern sich gar nicht mehr um die Kinder kümmern können, zum Beispiel weil sie in einer Klinik oder schwer drogenabhängig sind, können Kinder auch fremdplatziert werden – in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie. Das kommt aber eher selten vor.

5. Die mögliche Beschwerde

Die Familienbegleiterin kommt ein- bis zweimal pro Woche morgens früh vorbei. Sie kontrolliert, ob Janine H. aufsteht. Das klappt. «Wir sollten ja über Erziehungsfragen miteinander sprechen», sagt Janine H. Doch bald seien ihnen die Themen ausgegangen.

Nach sechs Monaten fragt die Familienbegleiterin, wie es weitergehen soll. Für Janine H. ist klar, dass sie die Massnahmen der Kesb nicht mehr will. «Man versuchte, irgendetwas bei mir zu finden, fand aber nichts.» Sie lässt die Familienbegleiterin nicht mehr in die Wohnung. Im Oktober 2020 beschwert sie sich vor Gericht – und erreicht, dass die Familienbegleitung gestoppt wird. Unterstützung in Familien- und Erziehungsfragen braucht sie nicht mehr.

Gegen Verfügungen der Kesb kann man sich wehren – indem man sich beim zuständigen Gericht beschwert. Jede Verfügung enthält am Schluss eine sogenannte Rechtsmittelbelehrung. Sie zeigt, an welches Gericht man sich mit welcher Frist wenden kann. Üblich ist eine Beschwerdefrist von 30 Tagen ab dem Moment, an dem der Kesb-Entscheid mitgeteilt wurde. Ob respektive wie viel das Verfahren kostet, ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Man kann sich auch über die Beistandsperson beschweren – zum Beispiel dann, wenn sie eine wichtige Frist verpasst hat oder einfach nichts tut. In diesem Fall wendet man sich an die zuständige Kesb. Eine Frist gibt es dafür nicht.

6. Das Endergebnis

Doch die Beistandschaft für Leonie und Ryan bleibt – vor allem, weil es immer noch Streit mit dem Vater der Kinder gibt. Die Beiständin soll nun überwachen, dass der Konflikt der Eltern nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird.

Doch Janine H. will nur eines: «Dass man mich endlich mit meinen Kindern in Ruhe lässt.» Sie versteht nicht, warum sie mit der Beiständin weiter eine fremde Person in ihr Privatleben lassen muss. Immerhin gehe es ja nur noch um den Streit mit dem Ex und nicht mehr um die Kinder. Sie beschliesst, nicht mehr mit der Kesb zu kooperieren. Auf Briefe antwortet sie nicht, Termine nimmt sie nicht wahr.

Die Kesb klärt ab, ob es die Beistandsperson tatsächlich noch braucht. Der Vater der Kinder ist dafür. Janine H. reicht gegen die Massnahme Beschwerde ein. Am 9. März 2023 erhält sie den Bescheid, dass die Beistandschaft für ihre zwei Kinder aufgehoben wird. «Nach dreieinhalb Jahren habe ich es geschafft, nun endlich meine Ruhe zu haben. Damit wäre diese Kesb-Geschichte zu Ende.»

Das «Kindeswohl»

Das Gesetz definiert nicht, was mit «Kindeswohl» gemeint ist. Trotzdem muss sich alles, was die Kesb tut, nach diesem richten. Kinder sollen in Lebensumständen aufwachsen, in denen sie sich psychisch, physisch, gefühlsmässig, geistig, sozial und kulturell gut und gesund entwickeln können.

Dazu gehören auch elementare Dinge: Eltern müssen den Kindern genügend zu essen geben oder sie wettergerecht anziehen. Sie müssen sich um sie kümmern, sie vor körperlicher und seelischer Gewalt schützen und stabile Bezugspersonen sein.

Probleme mit der Kesb?

Hat sich die Kesb bei Ihnen gemeldet, und Sie sind verunsichert, was das nun bedeutet? Oder haben Sie eine Verfügung erhalten, die Sie nicht verstehen? Das Beratungszentrum des Beobachters berät und informiert Abonnentinnen und Abonnenten zum Verfahren vor der Kesb sowie Rechten und Pflichten rund ums Kindeswohl. Sie erreichen den Fachbereich Sozialberatung unter der Telefonnummer 058 510 73 78 werktags zwischen 9 und 13 Uhr.

Musterbriefe im Umgang mit der Kesb bei Guider

Wie soll man sich an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) wenden, wenn man glaubt, dass ein Kind gefährdet sein könnte? Und was tun, wenn man mit einer Verfügung nicht einverstanden ist? Unsere Musterbriefe zeigen, wie Sie ein solches Schreiben formulieren können.

Was darf die Kesb alles?

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Beobachter-Experte Walter Noser über die häufigsten Vorwürfe gegen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Aufzeichnung vom 5.5.2020).
Quelle: Beobachter Bewegtbild
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Katharina Siegrist, Redaktorin
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