Die Frau legt das Handy zur Seite und blickt zur Decke. Ihre Fingernägel ticken die Stunden auf den Tisch. «Bei ihm ist es nun sechs Uhr früh. Also ist er wach», sagt sie. «Vielleicht ruft er ja an. Ich wünschte es mir.» Er, das ist Larry Allen Thompson. Zu lebenslanger Haft verurteilt wegen Mordes an einem Drogenhändler. Sie, das ist Simone, ehemalige Personalvermittlerin, pensioniert.

Seit Juni sind Larry und Simone ein Paar. Ein Paar mit Trauschein, das sich nur im Traum begegnen kann. Oder am Telefon. Oder das sich kurz umarmen darf, wenn Simone ihren Mann besucht. 20 Sekunden Zärtlichkeit sind erlaubt. Dann greift der Aufseher ein.

Wie beim ersten Mal. When Larry met Simone. Die Bernerin stand im Gefängnis, da ging die Tür auf, und Larry stand vor ihr. Gross, mit langem Bart, in grüner Häftlingskluft. Sie mit langem dunklem Haar, in Jeans und karierter Bluse. Beide scheu und mit grossen Augen. Wie Teenager, die sich die Wände entlangdrücken. Da gab die Aufseherin Simone einen kleinen Schubs. «Na los, geh schon zu ihm hin! Drück ihn! Gib ihm einen Kuss! Es kommt alles gut!»
 

«Sie ist die Liebe meines Lebens.»

Larry


Als sie sich in den Armen lagen, heulte Larry los. «Ich weinte an ihrer Schulter, Tränen der Freude und Dankbarkeit, Tränen der Hoffnung und Liebe. Ihre Schönheit und ihr Mitgefühl haben mich umgehauen. Sie ist die Liebe meines Lebens.»

Das ist zwei Jahre her. Kurze Zeit nach dem ersten Treffen fragte Larry, ob Simone ihn heiraten würde. Sie überlegte zwei Tage. An Larrys Geburtstag sagte sie Ja.

Acht Jahre, acht Stunden und 8000 Kilometer trennen das Paar. Acht Jahre: Sie ist 67, er 59. Acht Stunden beträgt der Zeitunterschied, wenn Larry seine Frau mit «Hello, Gorgeous!» begrüsst und Simone ihren Mann mit «Hello, Darling!». Sie lebt in einem Dorf bei Bern, er 8000 Kilometer weit entfernt im Gefängnis Buena Vista im amerikanischen Bundesstaat Colorado.

Ein Knast für 1259 Männer und 250 Aufseher

Colorado wurde mit dem Lineal gezeichnet. Die Staatsgrenzen sind rechtwinklig, viele Strassen pfeifengerade von Nord nach Süd, man biegt im rechten Winkel ab. Die Ortschaft Buena Vista zählt etwa 2700 Seelen. Ihr Wahlspruch: «Umgebe dich mit dem, was zählt.» In Larrys Fall sind das fünf Quadratmeter Zelle für zwei Häftlinge, Front vergittert, drei Wände, null Privatsphäre, nicht mal das WC ist vor Blicken geschützt.

Von oben gesehen, formt das Gefängnis Buena Vista ein rechtwinkliges Kreuz. Ein Flügel zeigt nach Westen, der zweite nach Osten und so weiter. Über allem thront ein gewaltiger Wasserturm, dahinter die Berge, die nach den besten Universitäten des Landes heissen: Harvard, Princeton, Yale. 1892 erbaut als Erziehungsanstalt für Jugendliche, ist Buena Vista seit 1978 ein Knast für 1259 Männer und etwa 250 Aufseher und Aufseherinnen mit einem Anfangslohn von 3517 Dollar plus zehn Prozent für die Nachtschicht. Man nennt sie «graveyard shift» – Friedhofsschicht.

Im Knast haben Larry und Simone geheiratet. Keine spezielle Kleidung, keine Zeremonie, kein Ehering. Für Besucher gilt: nichts mitbringen, nichts mitnehmen. Larry liess im Gefängnis zwei Ringe anfertigen und schickte Simone einen. «Material unbekannt, jedoch kein Edelmetall», sagt sie. Larry trägt ein gleiches Modell. «Er ist etwas vom Wertvollsten, was ich besitze. Wenn ich ihn an meinem Finger drehe, dann hoffe ich, dass Simone mich spürt.»

«Larry ist ein Vollzeitjob», sagt Simone.

Simone heiratete ihren Brieffreund, einen US-Häftling

Quelle: Kornel Stadler

Es ist einfach, sich über das Paar lustig zu machen und kurzzuschliessen: Aha, sie hat ein Helfersyndrom, und er ist einsam. Beides trifft zu, auf die eine oder andere Art. «Ja, ich habe ein Helfersyndrom. Selbstverständlich habe ich ein Helfersyndrom», sagt Simone. Larry sagt: «Einsamkeit ist wie ein Krebs Einsamkeit Wege aus der Isolation , der dich langsam von innen her auffrisst. Die einzigen Leute, die mich in den letzten vier Jahren besuchten, waren Anwälte, Ermittler und meine Simone, die es aus Liebe zu mir auf sich nimmt, um die halbe Welt zu fliegen. Bloss damit sie ein paar Stunden Ewigkeit lang meine Hände halten kann.»

Simone hat ein Berufsleben und eine Ehe hinter sich. Nach dem Willen ihrer Eltern hätte sie Drogistin werden sollen. «Doch ich hasste den Beruf.» Sie brach die Lehre ab und begann in einer Personalvermittlung zu arbeiten. In ihr Büro kamen auch Häftlinge, die vor der Entlassung standen, oder Menschen, die ihre Strafe bereits abgesessen hatten.

Oft waren das Leute, die wegen Drogendelikten im Gefängnis waren. Wie die junge Frau, die einen Job suchte. Sie bat Simone, ihr bei der Wiedereingliederung zu helfen. Von jenem Tag an war Simone auch Bewährungshelferin. Oder der Handwerker, der in ihr Büro und in ihr Leben trat. Die Ehe hielt nicht lange. Der Mann starb an einer Überdosis. Er war 40. Nun lebt sie allein in drei Zimmern in einer Vorstadt von Bern, mit zwei Hunden aus dem Tierheim; der eine heisst Allen, wie Larry mit zweitem Vornamen.

Seit Simone das Elternhaus verlassen hat, nimmt sie Hunde auf, die keiner will Hunde Sollen Streuner in die Schweiz? . Die alten und die kranken. Die unvermittelbaren. Tina, Pasco, Bobby, Angelo.

Am Anfang ein Schock

Als Simone in Rente ging, wollte sie wieder als freiwillige Bewährungshelferin arbeiten. Zwei Berner Gefängnisse wiesen sie ab. Kein Bedarf. Auf der Website Writeaprisoner.com stiess sie auf einen Häftling, der eine Brieffreundin suchte. Simones Schreiben war bereits unterwegs in die USA, da hatte sich der Mann das Leben genommen. Nach dem Schock brauchte sie ein paar Wochen Abstand. Dann fand sie Larry und schrieb ihm einen Brief.

«Simone hat ihr Leben im Dienst an anderen gelebt. Sie hat das Herz eines Engels. Sie ist mehr als meine Ehefrau, sie ist meine beste Freundin», sagt Larry. Seine Jugend verlief trüb. Heime, Pflegeeltern, vorzeitig von der Schule gegangen, Nachholen des Abschlusses der Hauptschule, da war er 18. In der Armee war er Ambulanzfahrer: «Das war mein Traumjob.» Später arbeitete er auf dem Bau. Eine Ehe, kinderlos. 1993 nahm Larrys schlingerndes Leben eine folgenschwere Wende. Nach einem Streit rief seine Frau die Polizei an. Ihr Mann habe einen Drogenhändler umgebracht. In Denver, der Hauptstadt von Colorado. Das habe er ihr gestanden.

In Denver war 1991 tatsächlich der leblose Körper eines Drogenhändlers gefunden worden. Eingewickelt in ein Tuch, verschnürt mit einem Elektrokabel. Man zählte 40 Messerstiche an der Leiche. «Ich bin nicht perfekt, und ich hatte es im Leben sehr schwer, aber ich bin kein Mörder», sagt Larry. Die Geschworenen kamen zu einem anderen Urteil. Larry bekam lebenslang wegen Mordes. Ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung. «So ein skandalöser Prozess wäre in der Schweiz nicht möglich», sagt Simone. Das Urteil beruhe auf falschen Aussagen und auf einer erwiesenermassen falschen Blutanalyse.

Kaputtes Leben

«Bevor ich ins Gefängnis kam, war ich auf Crack-Kokain , Alkohol und Sex. Ich war knapp zwei Jahre lang abhängig von Crack, und das hat mein Leben komplett zerstört», sagt Larry. «Ich bereue vieles. Mein verstorbener Bruder Lloyd hat mich in dieses Monster von Droge eingeführt. Vor der Überführung ins Gefängnis gab es keinen Entzug. Ich war high, als ich am 20. August 1993 verhaftet wurde. Seither nie mehr. Und ich will nie wieder von Drogen abhängig sein, aber ich würde liebend gern wieder eine Zigarette rauchen und ein eiskaltes Bier trinken.»
 

«Man kann sich kaum rühren.»

Larry


Seit 25 Jahren lebt Larry Allen Thompson in einer winzigen Zelle, in der sich zwei ausgewachsene Männer 16 bis 18 Stunden am Tag auf die Füsse treten. Es gibt einen schmalen Tisch, an der Wand festgeschraubt, einen Sitz, den man unter dem Tisch zu sich drehen kann, zwei Regale und eine Kombination von WC und Lavabo. Alles ist aus Metall. Auch das schmale Kajütenbett. «Man kann sich kaum bewegen, ohne irgendwo anzustossen. Es stinkt, und es ist laut hier. Gut geschlafen habe ich seit 25 Jahren nicht», sagt Larry.

Der zweite Bewohner seiner Zelle wird öfter ausgewechselt. Mal ist es ein Vergewaltiger, dann ein Steuerbetrüger. Zu essen gibt es Brot, Kartoffeln, Bohnen, ab und zu etwas Poulet. Larry arbeitet zweimal die Woche ein paar Stunden in der Wäscherei. Für das Reinigen der grünen Kluft und der weissen T-Shirts, Boxershorts und Socken vergütet man ihm 84 Cent am Tag.

Drei Tattoos: «Larry forever»

Im Vorort von Bern spart sich Simone jeden Rappen vom Mund ab, um Larry zu helfen. Freunde haben die Website Free-larry-allen-thompson.com eingerichtet, um auf das Unrecht aufmerksam zu machen und Geld zu sammeln. Larrys Prozess soll wieder aufgerollt werden. Ein erster Versuch scheiterte an fehlerhaften Eingaben. Ein neuer Anwalt arbeitet sich nun ein, er verzichtet auf Honorar. Simone hofft und lernt Englisch, Larry hofft und telefoniert fast jeden Tag mit seiner Frau. «Ich lebe durch sie.»

Es mache ihm das Leben leichter, dass er Simone habe. Nun sei er nicht mehr allein in seinem Kampf, sagt Larry. Zugleich mache es ihm das Leben schwerer. Er könne Simone nicht in den Arm nehmen und trösten, wenn sie weder aus noch ein wisse. «Ihre Tränen treffen mich im Herzen, ihr Lachen erfüllt mich mit Freude.»

Simone hat sich drei Tattoos stechen lassen: «Larry forever». Gleich über ihrem Herzen, auf dem Unterarm und über der linken Schulter. Nach dem Duschen trocknet sie sich mit dem Frotteetuch aus Buena Vista ab, auf dem Larrys Name steht. «Larry ist ein Vollzeitjob», sagt sie. Falls er freikommt, will er in die Schweiz ziehen und mit Simone den Lebensabend verbringen. Und als Erstes ein Steak essen.

Siebenmal haben sich Simone und Larry getroffen. 20 Sekunden zur Begrüssung und 20 Sekunden zum Abschied umarmen und küssen dürfen. «Wir nehmen, was wir bekommen.» Sie lauschen ihren Stimmen und schreiben sich Briefe. Mehr als 300 sind es bereits. Hat Simone es je bereut, Larry geheiratet zu haben? «Nie! Keine Sekunde! Larry oder keiner!»

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René Ammann, Redaktor
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