In der Gleichberechtigung eines Paars gibt es einen entscheidenden Moment: die Geburt des ersten Babys. Plötzlich ist alles anders. Und die Rollen sind vielleicht traditioneller verteilt als geplant. Auch bei Paaren, die immer gleichberechtigt gelebt, gearbeitet und gehaushaltet haben. Das Bundesamt für Statistik hat 2018 zuletzt erhoben, wie viele Stunden Frauen und Männer für den Haushalt und die Familie arbeiten.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Frauen machen mehr. Bei knapp 70 Prozent der Paare im Alter von 25 bis 54 Jahren mit Kindern wird die Hausarbeit hauptsächlich von der Frau erledigt, bei rund einem Viertel kümmern sich beide Partner gemeinsam darum, und nur bei 5 Prozent ist hauptsächlich der Mann zuständig. Ist gleichberechtigte Elternschaft also bloss ein Mythos?

Valentina Rauch-Anderegg, Sie sind Expertin in Sachen Beziehung und Elternschaft. Bleiben wir tatsächlich in unseren traditionellen Rollen gefangen, so sehr wir auch daraus ausbrechen wollen?
Gleichberechtigte Elternschaft ist kein Mythos, aber definitiv eine Herausforderung.

Die Psychologin Valentina Rauch-Anderegg im Interview über Maternal Gatekeeping, Mental Load und Erschöpfung.
Quelle: ZVG
Zur Person
Valentina Rauch-Anderegg, Psychologin

Warum denn?
Weil der Start ins Elternleben alles andere als gleichberechtigt ist. Schon rein logistisch. Nur ein Elternteil kann schwanger werden, nur einer gebären und nur einer den starken Hormonflash erleben. Und will man die Elternschaft gleichberechtigt auf beide Schultern verteilen, muss dieser Startvorschuss erst aufgeholt werden. 


Und das ist schwierig? 
Schwieriger, als man denkt. Auch wenn man Bücher zum Thema gelesen hat: Der Start ins Elternleben ist oft holprig und streng. Und dann fehlt es an Energie, auch noch über alle Hürden der gleichberechtigten Elternschaft zu springen. Egal, wie fest man das vor der Geburt noch vorhatte.

Was sind denn die Hürden, die einer gleichberechtigten Elternschaft im Weg stehen? 
Da sind zum Beispiel die ökonomischen Realitäten. Männer verdienen leider immer noch oft mehr oder haben aus verschiedenen Gründen mehr Mühe, eine Teilzeitstelle zu finden. Dann stecken halt die Frauen zurück und spielen auch in der Kindererziehung eine aktivere Rolle. Oder die Kita-Plätze sind so teuer, dass es Familien günstiger kommt, wenn ein Elternteil die Betreuung übernimmt und der andere Elternteil das Einkommen beisteuert. Dazu kommen aber auch ganz viele gesellschaftliche Hürden.

Mutter mit einem Stapel Kleider und Kleinkind in den Armen. Maternal Gatekeeping, Mental Load und Erschöpfung - Ein Gespräch mit Psychologin Valentina Rauch-Anderegg über die Tücken des modernen, gleichberechtigten Elternlebens.

Der Start ins Elternleben ist oft holprig und streng. 

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Zum Beispiel die festgefahrenen Bilder vom Vater als Ernährer der Familie und der Mutter als der umsorgenden Person zu Hause? 
Eigentlich genau das Gegenteil. Das enge gesellschaftliche Korsett, das junge Eltern vor zwei Generationen noch kannten, bot neben all den Schattenseiten auch Halt und Orientierung. Heute muss man an viel mehr Hebeln schrauben, bis man als Familie den eigenen Weg und das eigene Glück findet. Egal ob mit Gleichberechtigung oder nicht. 


Elternsein ist heute also schwieriger als früher? 
Nicht schwieriger. Aber anders. Von Vätern wird erwartet, dass sie eine aktive Rolle im Leben ihrer Kinder einnehmen und im Job trotzdem noch Vollgas geben. Von Müttern wird erwartet, dass sie im Job schnell wieder präsent sind und ihre Kinder loslassen. Aber ja nicht zu fest. Viele Familien fallen irgendwo zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Das frustet und führt zu Konflikten.

Dann beklagen Mütter ihre Mental Load und Väter das Maternal Gatekeeping? 
Zum Beispiel. Beide Phänomene sind allerdings nicht neu. Neu sind aber die Namen, die in der Debatte hängen bleiben. Maternal Gatekeeping bedeutet etwa, wenn eine Mutter dem Vater im Weg steht, eine engere Bindung zum Kind aufzubauen. Das kann aber verschiedenste Ausprägungen, nachvollziehbare Gründe und einfache Lösungen haben.


Zum Beispiel?
Ein Grund, dass es zu Maternal Gatekeeping kommen kann, sind Schwierigkeiten beim Loslassen. Oder dass man gewisse Betreuungsaufgaben zu perfekt ausgeführt haben will. Das «Lass nur, ich mach das schon», kommt dann etwas zu schnell, anstatt dass man dem Partner die Freiheit lässt, die Aufgabe auf seine Art und Weise zu erledigen. Dann hat das Kind halt zwei verschiedene Socken an. Halleluja. Wichtig ist doch, dass die Füsse warm sind.

Baby liegt Vater zwischen Füssen. Maternal Gatekeeping, Mental Load und Erschöpfung - Ein Gespräch mit Psychologin Valentina Rauch-Anderegg über die Tücken des modernen, gleichberechtigten Elternlebens.

Viele Familien fallen irgendwo zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

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Hauptsache, entspannt bleiben? 
Hauptsache, flexibel bleiben, würde ich sagen. Perfektionismus hat es schwer, denn die Kinder entwickeln sich schnell. Und mit ihnen auch die Abläufe und Aufgaben. Ein Beispiel: Am Anfang sind die Nächte streng. Also teilt man sie sich auf. Und wenn man merkt, dass das auch nicht funktioniert, macht man es halt nochmals anders. Ein gutes Gleichgewicht findet man nur, wenn man sich solchen Veränderungen neu anpasst und mit dem anderen Elternteil im Gespräch bleibt, sich offen austauscht und Wünsche ehrlich äussert. 


Also nicht nach perfekten Lösungen suchen, sondern besser Trial und Error leben?
Genau. Mit der frischen Elternschaft ist es ein bisschen wie mit einem Computer-Update. Ohne regelmässige Fehlerbehebungen funktioniert die Maschine nicht. Und was mir auch noch wichtig ist zu sagen: Wenn man diese Fehlerbehebung allein nicht schafft, ist es völlig okay, sich Hilfe zu holen. Das ist das Gute an diesen öffentlichen Debatten rund um gleichberechtigte Elternschaft. Wir als Gesellschaft merken: Familie ist kein einfaches Ding.