Ali Aydin* stöhnt leise, als er aufsteht. Dann geht er ein paar Minuten im Zimmer herum. Draussen bläst ein kühler Wind. «Das Wetter ist mühsam. Mal ist es warm, mal nass, dann wieder kühl. Nicht gut für mich», sagt er. Der 58-Jährige hatte drei Autounfälle. Seit dem letzten hat er keine guten und schlechten Tage. Er habe nur noch schlechte und weniger schlechte.

Aydin arbeitete früher beim Hausdienst des Zürcher Waidspitals, «150 Prozent», sagt er. Daran sei nicht mehr zu denken. Der Schmerz zieht vom Hals hinunter über die Schulter bis in Arme und Beine. Zudem leidet er unter Spannungskopfschmerzen und hat Arthrose in den Knien. «An manchen Tagen kann ich mich kaum bewegen», sagt er. Einen Beruf hat er nie erlernt.

Für die Invalidenversicherung ist Aydin vor allem eines: ein Schauspieler. Einer, der seine Rheumatologen, Psychiater, Neurologen und die Integrationsfachleute täuschen konnte, der sich unbeweglicher und dümmer gibt, als er ist. Einer, der diese Rolle seit Jahren durchhält.

Sein IV-Gesuch reichte der eingebürgerte Türke im Februar 2002 ein, ein Jahr nach dem folgenschweren Unfall. Ein Neulenker hatte ihm den Vortritt genommen und ihn von hinten seitlich gerammt. Ob er jemals eine IV-Rente erhält, ist 16 Jahre später nicht entschieden.

 

«An manchen Tagen kann ich mich kaum mehr bewegen.»

Ali Aydin*, 58


Ali Aydin hat doppeltes Pech. Er hat das Dümmste, was man aus versicherungsrechtlicher Sicht haben kann: ein Schleudertrauma und eine psychisch bedingte Schmerzverarbeitungsstörung. Die vielen Ärzte, die ihn untersucht haben, fanden zwar zahlreiche Probleme und Schädigungen bei fast jedem Halswirbel. Doch seine starken und anhaltenden Schmerzen lassen sich medizinisch nicht erklären.

Das Urteil der IV: «Selbstlimitierung». Aydin könne die Beschwerden eigentlich überwinden, wenn er nur wolle. Aber er stehe sich selber im Weg. In solchen Fällen verweigert die IV sämtliche Leistungen. Es liege kein Gesundheitsschaden vor, der die Erwerbsfähigkeit dauerhaft einschränke. So hielt es die IV, bis im Jahr 2015 das Bundesgericht diese Praxis änderte. Doch das wegweisende Urteil kam für Ali Aydin zu spät. Er hofft seit 2002 vergeblich auf eine Umschulung.

Immer die gleichen Fragen

Damals hat sein Gutachter-Marathon begonnen. In den 16 Jahren wurde er von der Unfallversicherung und der IV fünfmal begutachtet. 19 Fachärzte haben ihn beurteilt. Er reiste durch die halbe Deutschschweiz, beantwortete immer wieder die gleichen Fragen, beschrieb seine Beschwerden immer wieder aufs Neue, absolvierte Dutzende von Tests. Sein Rechtsvertreter, der Zürcher Sozialversicherungsanwalt Pierre Heusser, hat ein Wort dafür: «Gutachten-Shopping».

Aydins Dossier umfasst 1700 Seiten. Man findet darin immer wieder das gleiche Muster. Zweimal hat die IV neue Gutachten angeordnet, nachdem er für arbeitsunfähig erklärt wurde. Zweimal hat sie Leistungen abgelehnt, nachdem er als arbeitsfähig eingestuft wurde oder Einwände gegen eine erneute Begutachtung vorbrachte – und sie verweigerte. Das Verfahren dauert auch darum so lange, weil Aydin sich nicht alles gefallen liess. Dreimal legte er Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht ein, zweimal musste die IV ihre Entscheide korrigieren.

Aydin fühlt sich heute wertlos. «Ich bin kein Mann mehr, nur noch halbtotes Fleisch», sagt er. Wenn er in den Spiegel schaue, sehe er einen Versager. Seine Rolle als Ernährer der Familie könne er nicht mehr wahrnehmen. «Meine Frau und meine erwachsenen Söhne arbeiten. Ich esse.» Sozialhilfe erhält Aydin nicht. Seine Frau und die beiden Söhne, die noch zu Hause leben, verdienen dazu ein paar Franken zu viel. «Ich lebe auf ihre Kosten. Dabei müsste es doch umgekehrt sein», sagt er.

Es braucht ein Wunder

Ali Aydins Beschwerden sind chronisch geworden. Anwalt Pierre Heusser sagt: «Ich konnte förmlich zusehen, wie es mit ihm bergab ging.» Der langjährige behandelnde Neurologe schreibt in einem Arztbericht, er könne seinem Patienten nicht mehr helfen. Bei chronischen Schmerzen in dieser Form lasse sich durch Therapien und Medikamente keine Verbesserung mehr erzielen. Es brauche ein Wunder.

Die IV hofft offenbar noch immer darauf. Auch sie erkennt im langen Verfahren ein Muster, aber eines mit umgekehrten Vorzeichen. Dass sich der Fall derart in die Länge ziehe, sei dem Verhalten des Kunden und dessen Rechtsvertreter zuzuschreiben, heisst es bei der Sozialversicherungsanstalt Zürich. «Angeordnete Begutachtungen konnten immer erst nach einem Gerichtsentscheid durchgeführt werden.» Mit anderen Worten: Ali Aydin ist selber schuld, weil er immer wieder Beschwerde einlegte. Dass er oft genug Recht erhielt, verschweigt das Amt. Nach dieser Logik hätte sich Aydin fügen und Fehlentscheide akzeptieren müssen.

Immerhin sind sich die Parteien in einem Punkt einig: Es ist ein Ausnahmefall. «IV-Verfahren dauern oft Jahre, aber so etwas habe ich noch nie erlebt», sagt Pierre Heusser. «Im Schnitt können wir 80 Prozent der Fälle innert zweier Jahre nach der Anmeldung abschliessen», heisst es bei der Sozialversicherungsanstalt.

Die ständigen Schmerzen und das Gefühl, kein richtiger Mann mehr zu sein, haben Ali Aydin in eine Depression gestürzt. Sein Wesen habe sich verändert. Er lässt sich durch Kleinigkeiten aus der Ruhe bringen, reagiert manchmal aggressiv. «Danach tut es mir immer wahnsinnig leid, wenn ich herumgeschrien habe. Aber ich kann es manchmal einfach nicht unterdrücken», sagt er. Wenn es ihm schlecht geht, betrachtet er die Blumen auf seinem Balkon, lockert die Erde und wässert die Pflanzen. Die Blütenpracht tue ihm gut. Sie ist ein Farbtupfer in einem Leben, das ihm oft grau und sinnlos erscheint.

IV

Mit der Arbeit – Etiketten kleben, Servietten falten, Zündhölzer zuschneiden – hat er Mühe.

Quelle: Andreas Gefe

Vor drei Jahren hellt sich seine Gemütslage merklich auf. Er kann ein halbes Jahr lang an einem Arbeitstraining teilnehmen. Die IV ordnet die Eingliederungsmassnahme an, nachdem ein Gutachten ihn für arbeitsfähig erklärt hat. Aydin ist motiviert. Endlich gibt es einen Grund, morgens aufzustehen und aus dem Haus zu gehen – zur Arbeit. Abends ist er müde – von der Arbeit. Er kommt wieder unter Leute, erhält Taggelder und kann einen kleinen Teil zum Haushaltseinkommen beitragen. Ein bisschen fühlt sich Ali Aydin wieder wie ein richtiger Mann.

Mit der Arbeit – Etiketten kleben, Servietten falten, Zündhölzer zuschneiden – hat er Mühe. Aydin ist ineffizient, muss wegen der Schmerzen immer wieder Pausen einlegen, kann sich schlecht konzentrieren. Länger als einen halben Tag am Stück hält er nicht durch. Der Schlussbericht der Integrationsinstitution liest sich trotzdem wie ein Loblied auf seine Motiviertheit und Leistungsbereitschaft. Er hält aber fest, dass Aydin aufgrund seiner Beschwerden nicht auf dem freien Arbeitsmarkt bestehen könne.

Die Gutachter erkannten bei Ali Aydin eine «Symptomausweitung» und «Selbstlimitierung». Sie kommen zum Schluss, er könnte mehr leisten, wenn er nur wollte. Der Praxistest offenbart: Er möchte mehr leisten, als er kann.

Die IV beendet die Massnahme zur Wiedereingliederung, lehnt aber jede weitere Unterstützung ab. Es sei klar, dass Aydin nach so langer Absenz vom Arbeitsmarkt nicht sofort die volle Leistung erbringen könne. Er sei aber arbeitsfähig und solle sich bei der regionalen Arbeitsvermittlung anmelden.

Wie kann das sein, obwohl das Training die gesundheitlichen Einschränkungen klar dokumentiert? Der Bericht der Eingliederungseinrichtung habe der versicherungsmedizinischen Würdigung nicht standgehalten, heisst es bei der Sozialversicherungsanstalt. Man müsse stets das Gesamtbild im Auge behalten. Die Eingliederung sei nicht verlängert worden «wegen des subjektiven Empfindens» des Versicherten und Aydins «Benehmen in einer weiteren Institution».

Unklares Ereignis

Gemeint ist damit jene Integrationseinrichtung, bei der das Arbeitstraining ursprünglich hätte stattfinden sollen. Beim Vorstellungsgespräch Vorstellungsgespräch Heikle Fragen sei Aydin aufbrausend aufgetreten und habe sich auf keine der ihm angebotenen Arbeiten einlassen wollen, teilten die dort Verantwortlichen der IV mit. Er selber sagt dazu: «Ich weiss nicht, was damit gemeint ist. Mir wurde gesagt, sie hätten keine passende Stelle für mich, und ich sah das genauso.»

Was sich wirklich ereignet hat, ist unklar. Gemäss dem «Gesamtbild» der IV haben die Meinungen von Ärzten, die Aydin ein paar Stunden gesehen haben, und ein negatives Feedback von einem Vorstellungstermin mehr Gewicht als das sechs Monate dauernde Arbeitstraining.

Aydin legte gegen den negativen IV-Entscheid Beschwerde ein. Weil das Bundesgericht 2015 die bisherige IV-Praxis gerügt und sich Aydins Gesundheitszustand weiter verschlechtert hat, gab die IV letztes Jahr ein weiteres Gutachten in Auftrag. Es bescheinigt ihm eine Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent bei einer angepassten Tätigkeit. Definitiv entschieden ist aber nichts.
 

«Wo bleibt die Neutralität, zu der eine Behörde eigentlich verpflichtet wäre?»

Pierre Heusser, Anwalt


Am liebsten würde Aydin halbtags in einem geschützten Rahmen arbeiten, wie beim Arbeitstraining. «Ich will nicht zu Hause herumsitzen, ich möchte nützlich sein», sagt er. Die IV muss aber Hand dazu bieten. Denn ohne ihre Unterstützung gibt es keine Stelle in einer solchen Einrichtung.

Ali Aydin fühlt sich machtlos. «Wo bleibt bei der IV die Menschlichkeit?», fragt er. «Wo bleibt die Neutralität, zu der eine Behörde eigentlich verpflichtet wäre?», möchte sein Anwalt Pierre Heusser wissen. «Dieser Fall belegt ja gerade, dass das IV-Verfahren fair ist. Wir gehen stets ein auf neu eingebrachte Sachverhalte und klären umfassend ab», meint dagegen die Sozialversicherungsanstalt Zürich.

16 Jahre dauert der Streit. Die Positionen sind unversöhnlich.


* Name geändert

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