«Armut begleitet viele Menschen ein Leben lang»
Acht Prozent der Schweizer Bevölkerung sind noch immer arm, dies zeigt ein neuer Bericht. Die Stiftung SOS Beobachter kann Betroffenen helfen, sagt ihr Geschäftsführer Beat Handschin im Interview.

Veröffentlicht am 2. Dezember 2025 - 07:54 Uhr

Beat Handschin von SOS Beobachter kennt die Armutsfallen in der Schweiz.
Die Armutsquote in der Schweiz liegt seit acht Jahren unverändert bei acht Prozent. Das ist zu viel für ein reiches Land wie die Schweiz. Handlungsbedarf sieht auch der Bundesrat. Er gab deswegen ein Armutsmonitoring in Auftrag, das als Grundlage zur gezielten Bekämpfung von Armut dienen soll. Jetzt wurde der Bericht veröffentlicht.
Das Papier beschreibt die Armutssituation hierzulande und gibt Antworten auf Fragen wie: Welche Bevölkerungsgruppen sind am stärksten von Armut betroffen? Welchen Einfluss haben Bildung respektive mangelnde Bildung, selbst der Wohnort? Wie viele Menschen arbeiten und sind trotzdem in ihrer Existenz gefährdet?
Wer Teilzeit arbeitet, hat ein doppeltes Armutsrisiko
Vor allem Haushalte mit Kindern, also Familien, sind armutsgefährdet. Frauen sind häufiger von Armut betroffen, da sie öfter Teilzeit arbeiten. Sie können oft aus familiären Gründen nur eine Teilzeitstelle annehmen – etwa wegen struktureller Hindernisse wie einer fehlenden Kinderbetreuung oder dem Rekrutierungsverhalten von Unternehmen. Wer Teilzeit arbeitet, hat mit 5,8 Prozent ein rund doppelt so hohes Risiko, in die Armut abzurutschen, wie jemand mit einem Vollzeitjob.
Rund die Hälfte der Menschen, die es aus der Armut herausschaffen, ist innerhalb von fünf Jahren erneut betroffen.
Auslöser von Armut sind häufig kritische Ereignisse im Lebensverlauf, etwa eine Scheidung oder eine Krankheit. Die Bestandsaufnahme zeigt auch: Rund die Hälfte der Menschen, die es aus der Armut herausschaffen, ist innerhalb von fünf Jahren erneut betroffen.
Besonders erschreckend ist die Erkenntnis, dass viele Menschen nahe an der Grenze zur Armut leben. Würde man das soziale Existenzminimum um nur 500 Franken im Monat erhöhen, würden diese Menschen, die sich statistisch gerade noch über der Grenze zur Armut befinden, plötzlich unter diese Grenze fallen. Und die Armutsquote würde sich ungefähr verdoppeln.
Beat Handschin ist Geschäftsführer der Stiftung SOS Beobachter, die seit über 40 Jahren armutsbetroffene Menschen in der Schweiz unterstützt. Er kennt sich aus mit der praktischen Seite der Armutsbekämpfung und weiss, wie schmal der Grat zwischen arm und fast arm ist.
Beat Handschin, der Bund hat gerade seinen ersten Monitoringbericht veröffentlicht. Darin hält er fest, dass vor allem Haushalte mit Kindern, also Familien, armutsgefährdet leben. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?
Die kurze Antwort: grundsätzlich ja. Die längere Antwort: Auch viele alleinstehende Menschen im AHV-Alter oder mit gesundheitlichen Problemen brauchen finanzielle Unterstützung. Dabei ist Armut auch relativ – ab wann ist man «arm», wann ist es eine Notlage und wann nicht? Jemand, der nach offiziellen Grenzwerten nicht unter dem Existenzminimum lebt, kann trotzdem in eine Notlage geraten. Damit setzen wir uns bei SOS Beobachter immer wieder auseinander.
Gab es in der Untersuchung des Bundes Erkenntnisse, die Sie überrascht haben?
Nein, aber die Aussage, dass Armut meistens keine Momentaufnahme ist, sondern viele Menschen ein Leben lang begleitet, ist sehr wichtig. Umso mehr freut es uns, wenn wir jemandem nachhaltig helfen können, den Armutskreis zu durchbrechen – etwa mit einer Weiterbildung.
Wie viele Gesuche von armutsbetroffenen Menschen sind dieses Jahr über Ihr Pult gegangen?
Es waren per 27. November bereits 2290 Gesuche.
«Wir haben bis jetzt 1354 Gesuche gutgeheissen.»
Beat Handschin, Geschäftsführer Stiftung SOS Beobachter
Sind das mehr oder weniger als in anderen Jahren?
Das sind «nur» etwa 50 Gesuche mehr als letztes Jahr. Gegenüber dem Durchschnitt der Vorjahre (2019 bis 2023) ist das aber eine Zunahme von fast 25 Prozent.
Und wie vielen Hilfesuchenden konnten Sie dieses Jahr schon helfen?
Wir haben bis jetzt 1354 Gesuche gutgeheissen. Immer wieder können wir aber auch helfen, wenn wir ein Gesuch zwar ablehnen, aber die betroffene Person zum Beispiel an die richtige Beratungsstelle verweisen.
Wie kommt die Stiftung zu den nötigen finanziellen Mitteln?
Zum Beispiel über Spenden. Letztes Jahr waren es rund 1,9 Millionen Franken. Dies allein würde aber nicht ausreichen – wir haben gleichzeitig fast 2,7 Millionen Franken an Hilfesuchende gezahlt. Deshalb sind wir auch auf Legate und Erbschaften angewiesen. Und wir tragen dem Geld Sorge: Die Kosten für Administration und Fundraising betragen gerade einmal zwischen 15 und 16 Prozent. Trotzdem prüfen wir alle Gesuche sehr gründlich. Das sind wir unseren Spendern und Spenderinnen schuldig.
- Bundesamt für Sozialversicherungen: Armutsmonitoring 2025 Synthesebericht (PDF, Download)




