Seine Mutter quälte ihn – und er spricht darüber
Kurt Erni wurde als Kind von seiner Mutter schwer misshandelt. Er hat überlebt – und die Spirale der Gewalt durchbrochen. Ein Porträt über seelische Narben und den Kampf gegen ein Tabu.
Veröffentlicht am 24. August 2025 - 06:00 Uhr
Kurt Erni mit seiner Hündin Bonny: «Hunde haben mich noch nie enttäuscht. Im Gegensatz zu Menschen, zu meiner Mutter.»
«Man ist als Kind völlig abhängig von den Eltern. Ich war meiner Mutter ausgeliefert. Sie war eine Sadistin», sagt Kurt Erni dem Beobachter. Der 76-jährige Zürcher ist ein kleiner, schmaler Mann. Er sieht jünger aus, als er ist. Wenn er erzählt – bedächtig und langsam –, blitzt manchmal der Schalk in seinen Augen auf. Er bezeichnet sich als introvertiert und reserviert.
«So wie meine Mutter werde ich nie»
Seine Mutter verbrühte ihn als kleines Kind mit kochendem Wasser. Sie verbrannte seine Hände, als er 20 Rappen gestohlen hatte, mit den Worten: «Du wirst niemals wieder etwas stehlen.» Stopfte ihm Zeitungspapier zwischen die Finger und zündete es mit einem Streichholz an. Sie schlug ihn, liess ihn hungern, sperrte ihn stundenlang ein.
Sie verbot ihm zu trinken, damit er nicht ins Bett machte. Also trank er heimlich aus der WC-Schüssel.
Später zwang sie ihm Zungenküsse auf. Sie verbot ihm zu trinken, damit er nicht ins Bett machte. Also trank er heimlich aus der WC-Schüssel. Die Mutter nannte ihn immer wieder ein Nichts, sagte 1000 Mal, er tauge höchstens zum Verbrecher.
Der Vater verliess die Familie, als Erni zehn Jahre alt war. «Er hat mich immer freitags verprügelt, dann verschwand er», so Erni. Angst habe er aber nur vor der Mutter gehabt, dieser gewalttätigen Frau mit der sadistischen Neigung. «Ich schwor mir: So wie sie werde ich nie.»
«Wunden heilen, die Psyche nicht»
Die seelischen Narben seien die schlimmsten. «Wunden heilen, die Psyche nicht», sagt Erni. Er sitzt mit seiner Partnerin Therese Riethmann am Küchentisch ihrer gemeinsamen modernen Wohnung in Zumikon ob Zürich. Es ist ein warmer Julitag. Erni zeigt auf die Brandnarben an seinen Händen. Immer noch ist er fassungslos, wie eine Mutter dem eigenen Kind so etwas antun kann.
«Es gibt leider auch böse Frauen. Meine Mutter war eine. Definitiv.»
Kurt Erni
Das ist sein grosses Thema: das Tabu «weibliche Gewalt». Es herrsche in der Gesellschaft das Bild der lieben Frauen und der bösen Männer vor. Daran will er kratzen: «Es gibt leider auch böse Frauen. Meine Mutter war eine. Definitiv.» Verzeihen konnte er ihr bis heute nicht, auch an ihrem Totenbett nicht, zu dem sie ihn rief. «Ich musste mein Schicksal annehmen, Vergebung gehört nicht dazu.»
Kurt Erni wurde im Gegensatz zur Prophezeiung seiner Mutter kein Verbrecher. «Aus Trotz», sagt er. Er wurde zuerst Koch, weil er als Kind immer Hunger leiden musste. Danach Kantonspolizist, «wegen meines Gerechtigkeitssinnes». Später dann Chef des Stadtzürcher Bestattungs- und Friedhofsamts. Eine erfolgreiche Karriere.
Bis zu seinem Zusammenbruch 1998, als ihn die verdrängten Erlebnisse der Kindheit einholten. Da war er 50 Jahre alt.
«Es geht darum, wie man damit umgeht»
«Wer ein ‹Warum› zum Leben hat, kann fast jedes ‹Wie› ertragen.» – Viktor Frankls Spruch ist Ernis Leitmotiv, der österreichische Neurologe und Psychiater sein Vorbild. Frankl überlebte den Zweiten Weltkrieg als KZ-Insasse. Sein bekanntestes Werk handelt davon: «… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager». Kurt Erni sagt: «Frankls Satz trifft es so gut. Ein Schicksal ist, wie es ist. Es geht darum, wie man damit umgeht.» Ein sinnerfülltes Leben stärke die Widerstandsfähigkeit gegenüber den Herausforderungen des Lebens.
Kurt Erni: «Ich liess ich mich als junger Mann unterbinden – ich wollte die Gewalt nicht an eine weitere Generation weitergeben.»
Als Jugendlicher entschloss er sich, seinem Schicksal mit eiserner Disziplin zu entkommen. Niemand wusste von seinem Martyrium. Seine Mutter war bereits in einer gewalttätigen Familie aufgewachsen, «sie kannte nichts anderes», sagt Erni. Das rechtfertige aber nichts. Er wollte aktiv die Gewaltspirale durchbrechen. «Deshalb liess ich mich als junger Mann unterbinden – ich wollte die Gewalt nicht an eine weitere Generation weitergeben.» Bereut hat er das nie. Den Kontakt zur Mutter brach er ab, als er die Lehre zum Koch abgeschlossen hatte.
«Ein Wunder, dass er überlebt hat»
Erst nach seinem Zusammenbruch konnte er «das Unsägliche» aussprechen. Bis dahin wusste seine Partnerin nur bruchstückhaft, was mit ihm los war. Sie kannte seine Mutter und hätte ihr nie solche Misshandlungen zugetraut.
Es sei ein Wunder, dass er überlebt habe, sagt Kurt Ernis langjährige Therapeutin. Sein Innerstes sei trotz all dem Schmerz unbeschädigt geblieben – das war seine Rettung. Ernis Partnerin Therese nickt. Die beiden sind seit über 40 Jahren zusammen. «Ihr verdanke ich alles», sagt Erni.
Sein im letzten Jahr erschienenes Buch «Vom Nichts zum Ich», in dem er sein Leben beschreibt, ist ihr gewidmet. Er sei lange schwierig und misstrauisch gewesen. Musste erst lernen, dass nicht alle Frauen böse sind. «Ohne Therese würde ich nicht mehr leben», ergänzt er. Sie erzählt, dass sie oft Angst um ihn hatte. Auch heute noch, wenn er später heimkommt als verabredet. Wie Nachbarinnen sie fragten, warum sie «den Spinner» nicht verlasse, als er wieder einmal in einer Klinik war.
«It’s Now or Never»
Im Radio läuft zufällig in diesem Augenblick Elvis’ Hit «It’s Now or Never» – fast schon kitschig. Therese ist die Liebeserklärung nicht recht, sie habe gar nichts Besonderes gemacht, meint sie.
In diversen Privatkliniken wurde er wegen Burnouts behandelt, musste 21 verschiedene Medikamente einnehmen, war ständig zugedröhnt. Es half nicht.
Nach Ernis Zusammenbruch, auch ausgelöst durch das Luxor-Massaker im November 1997, bei dem Islamisten in Ägypten 58 Touristen töteten, hatte er mehr als ein Dutzend mehrmonatige Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Er stand damals als Chef des Bestattungs- und Friedhofamts Zürich nonstop im Einsatz und wollte die entstellten und verstümmelten Leichen herrichten.
In diversen Privatkliniken wurde er wegen Burnouts behandelt, musste 21 verschiedene Medikamente einnehmen, war ständig zugedröhnt. Es half nicht.
Erst als er sich 2014 selber in die Psychiatrische Uniklinik in Zürich einlieferte, diagnostizierte eine Psychiaterin eine posttraumatische Belastungsstörung. Ein Kindheitstrauma. Sie reduzierte die Tabletten auf zwölf – und Erni ging es endlich besser. «Ich hörte wieder die Vögel singen», erinnert er sich.
Mutiger Weg an die Öffentlichkeit
«Gesund bin ich noch nicht. Aber auf gutem Weg», sagt er. Die Antidepressiva muss er weiterhin nehmen, ohne Medikamente geht es nicht. Das Buch zu schreiben, war sein Versuch, das Ganze zu bewältigen und zu verarbeiten. Seine Therapeutin, zu der er immer noch regelmässig geht, sehe aus wie seine Mutter. Kurze Haare, männlicher Typ. Dass er trotz dieser Ähnlichkeit Vertrauen zu ihr fassen konnte, habe ihm gezeigt, dass er das Trauma überwinden kann.
Er habe unzählige Zuschriften von Leserinnen und Lesern bekommen – nur positive.
«Es war hart und hat viel Mut gebraucht, damit an die Öffentlichkeit zu gehen», sagt er. Mit so vielen privaten Details. Als diesen Frühling ein Bericht über ihn und sein Buch in der «Sonntagszeitung» erschien, likten ihn fast 13’000 Menschen. Er habe unzählige Zuschriften von Leserinnen und Lesern bekommen – nur positive. Seine Partnerin Therese hat das Buch noch nicht gelesen: «Das mache ich dann mal in einer ruhigen Minute ganz für mich allein», sagt sie.
«Hunde haben mich noch nie enttäuscht»
Wie auf Kommando springt in diesem Moment Bonny dazwischen, ein australischer Cobber Dog, und will spielen. Die Hündin ist «im Flegelalter», sagt Therese. «Mit ihr habe ich keine Ruhe.» Sie liebt Hunde, genauso wie Erni. «Hunde haben mich noch nie enttäuscht», sagt er. Im Gegensatz zu Menschen, zur Mutter. Im Gang der hellen Wohnung hängen grosse Gemälde früherer Hunde von Kurt und Therese. Eine hündische Ahnengalerie.
Er hat eine Spirale der Gewalt durchbrochen
- Kurt Erni: «Vom Nichts zum Ich. Eine gewaltige Geschichte.»
- Sonntagszeitung: «Meine Mutter, die Sadistin.»
- Zolliker Zumiker: «Wenn die Mutter zur Täterin wird»