«Du Arschloch.» Weil sie von ihrem Kollegen massiv genervt war, zeigte eine Tankstellenmitarbeiterin aus Winterthur ihrem Kollegen den Stinkefinger. Das passiert eben mal. Dumm nur, dass eine Überwachungskamera die Aktion gefilmt hat und mit dem Arbeitskollegen auch noch schlecht Kirschen essen ist.

Er hat eine Strafanzeige erstattet, und so wurde seine Mitarbeiterin kürzlich von der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland zu einer bedingten Geldstrafe von zehn Tagessätzen à 110 Franken mit einer Probezeit von zwei Jahren verurteilt. Das heisst, nur im Wiederholungsfall muss die Frau die Strafe zahlen. Der «Blick» hat berichtet. Das tönt glimpflich, ist es auch. Trotzdem ist der Stinkefinger die 60-Jährige ziemlich teuer zu stehen gekommen. Sie muss Verfahrenskosten und eine Busse bezahlen, was sich auf insgesamt 1100 Franken beläuft.

Die neue Strafprozessordnung machts möglich

Und ja. Ein schneller Stinkefinger kann tatsächlich ein Strafverfahren auslösen. Zumindest seit der Einführung der neuen Strafprozessordnung vor zwölf Jahren. 

Im Fall des Winterthurer Stinkefingers hatte der Geschädigte Zeit, innert drei Monaten Strafantrag bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft zu stellen, danach fand das Verfahren zwischen den Behörden und der Beschuldigten statt. Vor 2011 musste ein Mittelfinger noch mit einem Privatstrafklageverfahren prozessiert werden. Der Geschädigte hätte dann selber Anklage erheben und die vorgeworfene Tat selber beweisen müssen. 

Heute liegt die Beweisführung bei der Staatsanwaltschaft. Und da hatte der Geschädigte ziemlich Glück – oder umgekehrt die Mitarbeiterin ziemlich Pech –, dass die Tat überhaupt von einer Überwachungskamera gefilmt worden war. Ohne diesen Beweis hätte es nämlich auch gut sein können, dass Polizei und Staatsanwaltschaft Besseres zu tun wussten, als einer lapidaren Stinkefinger-Strafanzeige nachzugehen.

Nicht nur ein Mittelfinger hätte theoretisch das Potenzial, ein Strafverfahren auszulösen, sondern alle sogenannten Ehrverletzungsdelikte. Ehre, das ist «der Ruf, ein ehrbarer Mensch zu sein». Wird dieser Ruf, zum Beispiel durch einen Stinkefinger, beschädigt, liegt eine Ehrverletzung vor.

Aber was muss einem konkret rausrutschen, damit man sich wegen einer Ehrverletzung strafbar macht?

Diese Beleidigungen können teuer werden: 

  • 1. Eine Beschimpfung wie «Fick dich, du Arschloch», «vaffanculo» oder «Tubel» etwa, gelten wie der Stinkefinger als strafbar (Artikel 177 StGB). Sie greifen die Ehre mit einem reinen Werturteil an und können auf Antrag mit einer Geldstrafe von bis zu 90 Tagessätzen bestraft werden. 
  • 2. Eine üble Nachrede wie «Sie spinnt komplett», «Seine Mutter ist hässlich» oder «Er ist ein Halsabschneider». Eine üble Nachrede (Artikel 173 StGB) ist eine Tatsachenbehauptung gegenüber Dritten, welche die Ehre verletzen kann. Straflos bleibt, wer behaupten kann, dass die Tatsache wahr ist oder für wahr gehalten werden durfte. Bei übler Nachrede kann eine Geldstrafe verhängt werden.
  • 3. Eine Verleumdung wie «Die sind alle pädophil» oder «Er ist ein Fremdgeher». Im Gegensatz zu einer Beschimpfung wird bei einer Verleumdung (Artikel 174 StGB) vorausgesetzt, dass der Täter genau weiss, dass seine Behauptung nicht wahr ist. Die Verleumdung kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft werden. 
     

Neue Strafprozessordnung hin oder her – für alle diese Delikte gilt das Gleiche: Können sie nicht bewiesen werden, können sie nicht bestraft werden. Wenn man also schon einem Mitarbeiter den Mittelfinger zeigen muss, dann sollte man sich besser nicht dabei filmen lassen.

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