Die Zahlen sind ein Schlag ins Gesicht für jeden Prämienzahler: Über 1400 Tonnen Medikamente landen in der Schweiz jedes Jahr im Abfall, vermeldete diesen November der «Blick». Der Wert dieser Medikamente beträgt rund 1 Milliarde Franken. Ein Grossteil der Medikamente wird von den Krankenkassen bezahlt.

Der Befund ist nicht neu. Bereits im Jahr 2000 schätzte der Krankenkassenverband Santésuisse, dass jährlich hunderte Tonnen Medikamente im Müll landen und Millionen Franken in Rauch aufgehen. Seither geht der Streit, wer Schuld daran trägt und wie eine Besserung eintreten könnte.

Sind die Verpackungen zu gross?

Immer wieder ein Thema ist die Grösse der Medikamentenpackungen. Patientenorganisationen monieren, dass sie zu gross sind. «Verträgt Medikamente Vor schweren Schäden wird zu spät gewarnt jemand ein Medikament nicht oder benötigt er nicht die ganze Schachtel, landet der Rest im Müll», sagt Erika Ziltener von den Schweizerischen Patientenstellen.

Die Medikamentenhersteller halten dagegen. Das Gesetz schreibe vor, dass die Packungsgrössen der Therapiedauer entsprechen müssten. «Die Hauptursache dafür, dass Medikamente weggeworfen werden, liegt in der fehlenden Therapietreue Therapieverweigerung Wenn die Patienten beim Arzt aufmüpfig werden », schreibt Interpharma, der Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz.

Überraschendes Ergebnis in Frankreich

Glaubt man den Angaben der Krankenkassen, halten sich tatsächlich gerade jene Patienten oft nicht an die Vorgaben des Arztes, die sehr viele Medikamente brauchen. Der Branchenverband Santésuisse schätzt, dass rund 40 Prozent aller chronisch Kranken ihre Medikamente nicht wie verordnet einnehmen. Das seien in der Schweiz rund 880'000 Menschen. Sie werfen die Medikamente in den Abfall oder lassen sie so lange im Schrank liegen, bis das Verfallsdatum überschritten Hausapotheke Weniger ist meist besser ist.
 

«Die Einzelabgabe erhöht das Vertrauen der Patienten in die Therapie.»

Erika Ziltener, Schweizerische Patientenstellen


Der Bundesrat folgte lange der Argumentation der Pharmaindustrie Pharmagelder für Ärzte und Spitäler Grosse Geschenke erhalten die Freundschaft . Forderungen nach kleineren Packungen oder einer Einzelabgabe von Medikamenten lehnte er ab. Erst vor einem Jahr haben Erfahrungen in Frankreich zu einem Umdenken geführt. Dort führte man einen Versuch mit der Einzel-Abgabe von Antibiotika durch. Ein Arzt verschrieb einem Patienten zum Beispiel 13 Tabletten. Der Apotheker händigte ihm dann exakt 13 Tabletten aus, nicht eine 20er-Packung. Nicht nur ging die Zahl abgegebener Tabletten dadurch um 10 Prozent zurück. Unerwartet stieg vor allem die Therapietreue deutlich an: Während in der Kontrollgruppe nur zwei Drittel der Patienten die ganze verschriebene Dosis einnahmen, waren es bei der Einzelabgabe über 90 Prozent.

Der Bund will nun selbst eine Pilotstudie durchführen, bei der Ärzte und Apotheker Antibiotika einzeln abgezählt abgeben. Man werde prüfen, wie sich das auf Sicherheit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit auswirkt, sagt Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit. «Ob der Versuch später auch auf Medikamente generell ausgebaut wird, hängt von den Ergebnissen ab.»

Pharmaindustrie weiterhin skeptisch

Erika Ziltener von der Patientenstelle fordert, dass Medikamente künftig vermehrt abgezählt abgegeben werden. «Das erhöht das Vertrauen der Patienten in eine Therapie.» Der Pharmaverband Interpharma hingegen lehnt eine Ausweitung der Einzelabgabe ab. «Es entstünden zahlreiche Probleme», sagt Sprecherin Sara Käch. Zum Beispiel würden die Patienten die Medikamente leicht verwechseln, wenn die Tabletten nicht mehr in der Originalverpackung gelagert werden. Auch könne man nicht mehr exakt rückverfolgen, welche Pille oder welches Zäpfchen zu welchem Patienten gegangen ist, wenn die Schachtel nicht mitgeht.
 

«Das Problem haben die Patienten – und die Prämienzahler.»

Erika Ziltener, Schweizerische Patientenstellen


Derartige Bedenken gibt es auch bei den Ärzten und Apothekern. Dennoch stehen sie der Einzelabgabe eher positiv gegenüber. «Mich ärgert es, wenn es keine passenden Packungen gibt», sagt Eva Kaiser vom Verband mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz. Medikamente auszuzählen und neu abzupacken bedeute aber einen enormen Mehraufwand. «Das würde die Medikamentenabgabe verteuern.» Tom Glanzmann vom Apotheker-Verband Pharmasuisse sagt: «Wir sind dem Pilotversuch gegenüber offen und gespannt auf die Ergebnisse.» Die Krankenkassen erhoffen sich durch die Einzelabgabe Einsparungen. «Vor allem bei teuren Medikamenten Palliative Care Wie sinnvoll sind teure Medikamente am Lebensende? könnte sie Sinn machen», sagt Matthias Müller vom Santésuisse.

Ärzte und Apotheker sind gefordert

Alle Akteure sind sich einig, dass die Grösse der Packungen allein nicht darüber entscheidet, wie viele Medikamente im Müll landen. «Die Betreuung durch den Arzt und den Apotheker ist das Wichtigste», sagen Patientenvertreterin Ziltener und Interpharma-Sprecherin Käch unisono. Weiss der Patient, warum er ein Medikament nehmen muss, wie lange es dauert, bis es wirkt und welche Nebenwirkungen dabei auftreten können? Wendet er sich vertrauensvoll an den Arzt, wenn er eine Therapie absetzen will? Fragt er beim Apotheker nach, ob es ein Medikament statt in Zäpfchen- auch in Tablettenform gibt?

Es gebe viele Gründe dafür, dass Medikamente im Abfall landen Medikamente Abgelaufen, aber immer noch gut , sagt Erika Ziltener. Wirklich einen Nachteil entstehe dadurch aber weder für Ärzte noch Apotheker noch Pharmafirmen. Und auch für die Krankenkassen nur bedingt. «Das Problem haben die Patienten – und natürlich die Prämienzahler.»

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Raphael Brunner, Redaktor
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