Endlich Wochenende, die Lizenz zum Trinken. André Wirz* (Name geändert) sitzt mit Freunden in der Lounge eines Clubs. Eine Flasche Wodka macht die Runde. Prost, Musik läuft, man redet ein bisschen, trinkt, füllt ein, holt Nachschub. Einige Stunden zuvor hat André zu Hause mit Bier vorgeglüht, der härtere Wodka baut darauf auf. Später an der Bar gibts Shots, André zählt nicht mit. Irgendwann, mitten unter Menschen und Musik, setzt sein Bewusstsein aus.

In der Erinnerung klafft tags darauf eine Lücke. Es gab Wochenenden, da erlebte der heute 30-Jährige zwei Totalabstürze in Folge, am Montag erschien er etwas verzurrt, aber pünktlich bei der Arbeit. Unter der Woche trinkt er nicht.

Spuren lesen

Harmlos sei es eigentlich, sagt Nina Meier* (Name geändert), wenn sie ausgehe. Sie ist gesellig, mag Dorffeste, unkomplizierte Anlässe, an denen sie zusammen mit Freunden und Bekannten an der langen Festbank Wein trinkt, sich austauscht. Der nächste Korken wird gezogen, Wein quirlt in die Gläser. Zum Wohl! Manchmal ist Ninas langjähriger Partner mit dabei, nach fröhlichen Stunden steht er auf, «ich gehe nach Hause». Nina bleibt sitzen.

Am nächsten Tag deutet die Art, wie sorg- oder unsorgfältig Jacke, Schuhe und Kleider daliegen, darauf hin, in welchem Zustand sie nach Hause kam. Je betrunkener Nina ist, desto lauter lacht sie. Sie wird nicht anhänglich, sondern eher abweisend, viel mehr weiss sie nicht über ihr Verhalten im Rausch. Am Frühstückstisch herrscht eine frostige Stimmung. Ihr Partner ist enttäuscht, verletzt. «Warum machst du das? Wie kannst du dich so gehen lassen? Wo bleibt deine Selbstachtung?»

Rauschtrinken gehört zur Geschichte der Menschheit. Trinkgelage gab es nicht erst bei den alten Griechen, von ihnen für heutige Ohren etwas hochtrabend «Symposion» genannt. Auch in der schweizerischen Kultur ist Alkohol fest verankert. Rund 85 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren trinken mehr oder weniger regelmässig Alkohol. Ein Kulturgut, das die Selbststeuerung auf Messers Schneide stellt. Wird es zu viel, kippt das Genussmittel in ein Rauschmittel, das abhängig machen kann. Wann ist viel zu viel?  Und wann wird es zum Muster, aus dem man nicht mehr herausfindet?

Unter Männern

André Wirz möchte das Tabu brechen und über Alkohol reden. Im coronabedingten Slowdown treffen wir uns online.

Ein junges Gesicht blickt in die Kamera, im Hintergrund ist die helle Küche seiner Dreizimmerwohnung zu sehen. Der Ostschweizer arbeitet als Techniker, reist gern und lebt, wie er sagt, als Handballtrainer seine soziale Ader aus. Nun soll es um seine weniger klar definierte Seite gehen, wenn die Konturen seines Ichs im Rausch verschwimmen.

«Die verbreitete Vorstellung: Alkoholiker sind verwahrlost auf Parkbänken anzutreffen, oder sie trinken heimlich.»

Brigitte Hunkeler, Expertin für Suchthilfe

Seit er sechzehn war, gipfelt der Ausgang regelmässig in Totalabstürzen. Auf Trinkspiele in jungen Jahren folgten Besuche in Clubs, mittlerweile feiert er eher im privaten Kreis. Unlängst meinte ein Kollege mit ähnlichem Trinkverhalten: «Du hast kein Problem. Sonst hätte ich ja auch eins.» Exzessiver Alkoholkonsum in Gesellschaft gilt bei Männern oftmals als Kavaliersdelikt.

Echte Alkoholiker sind entweder verwahrlost auf Parkbänken anzutreffen oder trinken heimlich zu Hause – das sei die typische Vorstellung, die Leute haben, stellt Brigitte Hunkeler immer wieder fest. Sie arbeitet als Fachpsychologin bei der Integrierten Suchthilfe Winterthur. Sogenannte Pegeltrinker fühlen sich nur ab einem bestimmten Alkohollevel imstande, den Alltag zu meistern. Sie trinken so viel, dass der Körper eine gewisse Toleranz entwickelt hat. Von aussen ist ihnen der Alkoholpegel oft nicht anzumerken. Wer nur episodisch trinkt, kann wiederum ganz gut tage- oder wochenlang ohne Alkohol auskommen.

Nina Meier verneint am Telefon die Frage erstaunt. «Allein zu Hause einen Wein trinken? Nein, das käme mir nicht in den Sinn.» Der erste Shutdown war für Andrés und Ninas Alkoholkonsum so gesehen heilsam. Beide könnten die Schutzbehauptung vorschieben, sie hätten das Trinken im Griff. Sobald sie aber ausgehen, bröckelt die Fassade. Sie haben Mühe, den Konsum zu zügeln, strudeln unwillentlich ins nächste Blackout.

Dass ein Totalabsturz für den Körper nicht gesund ist, liegt auf der Hand. Alkohol ist ein Nervengift. Besonders risikoreich ist schnelles, übermässiges Trinken: Der Alkohol flutet schlagartig an Katerkopfschmerzen Warum nach zu viel Alkohol der Kopf brummt , er kann sich nicht im Körper verteilen. Regulierende Mechanismen wie Müdigkeit und Übelkeit versagen ihren Dienst, der Duracell-Hase, den André zur Illustration herbeizieht, läuft hartnäckig weiter – bis die Batterie leer ist. Wer die Besinnung verliert, läuft Gefahr, sich zu verletzen, bei manchen steigt die Gewaltbereitschaft, sich selbst kann man nur schlecht schützen.

Phasen des Rauschs

André erinnert sich an ein Alkoholerlebnis in den USA, da war er 23. Statistisch gesehen befand er sich im Alters-Peak der episodischen Alkoholtrinker.

  • «Kennen Sie den Film ‹Hangover›? Da machen sich vier Männer auf den Weg zu einem Junggesellenabend und erleben ein Desaster nach dem anderen. Als ich mit drei Freunden auf Reisen in Los Angeles im Ausgang war, artete der Abend auch ziemlich aus.»

Phase eins: Exzitation (Blutalkoholkonzentration zwischen 0,2 und 2,0 Promille). Enthemmung, die Risikofreudigkeit nimmt zu und damit auch die Selbstüberschätzung.

  • «Am frühen Abend tranken wir die ersten Biere. Eigentlich wollten wir danach essen gehen, aber daraus wurde nichts. Wir zogen in die nächste Bar, bestellten Härteres.»

Phase zwei: Hypnose (Blutalkoholkonzentration zwischen 2,0 und 2,5 Promille). Der Alkohol greift weitere Bereiche in der Hirnregion an, das Sehfeld wird eingeschränkt, es treten Koordinationsstörungen auf.

  • «Wir waren euphorisiert, wahrscheinlich laut und fielen auf. Irgendwann hat man uns aus der Bar geschmissen.»

    Wenn das Kleinhirn gelähmt ist, sind die Feinmotorik und das Gleichgewicht gestört. Bei noch mehr Alkohol wird der Trinker konfus, er lallt.

    «Vor die Tür gestellt, zogen wir weiter. Wir verloren einander aus den Augen. Was danach kam, weiss ich nicht mehr.»

Phase drei: Narkose (2,5 bis 4,0 Promille). Der Betrunkene wird müde, sackt in sich zusammen, wird bewusstlos. Das Gedächtnis fällt aus. Es kommt zum Filmriss.

  • «Jeder von uns hatte eine andere Geschichte. Ich wachte tags darauf im Spital auf mit zugetackerten Platzwunden am Kopf. Jemand hatte den Krankenwagen gerufen, die Rechnung fiel entsprechend hoch aus.»

    André prüfte: Geld, Portemonnaie, Schlüssel? Alles war da. Da er niemand ist, der mit Alkohol ausfällig wird, geht er davon aus, dass er sich die Verletzung bei einem Sturz zugezogen hat. Aber das dunkle Loch des Nichtwissens, die Leerstelle, blieb eingebrannt.

Phase vier, die Asphyxie, hat André zum Glück nicht erlebt. Sie kann bei einer Blutalkoholkonzentration von über 4,0 Promille eintreten, es droht die Gefahr, wegen Atemstillstand, Kreislaufversagen oder Untertemperatur zu sterben.

Wer ist man, wenn die Schaltzentrale nicht mehr nach bewusst gesetzten Regeln tickt? «Alkohol als Spiegelbild der Seele zu sehen, ist absurd. Man macht sich ja irgendwie auch klein, wenn man nur zugetrunken locker wird. Das nagt am Selbstvertrauen.»

An den Wänden eines 5000 Jahre alten ägyptischen Grabmals eines Königs steht: «Seine irdische Wohnstätte war von Wein und Bier gepachtet und zerschlagen worden. Sein Geist flüchtete, bevor er gerufen wurde.»

Das Masslose, Ungesteuerte steht heute in Kontrast zur Vorstellung der Selbstoptimierung, bei der die Kontrolle auf immer umfassendere Bereiche der eigenen Person ausgedehnt wird.

«Der Druck in unserer Leistungsgesellschaft ist gross. Es gab auch schon Zeiten, da wollte ich mich an Open Airs bewusst zutrinken, bis ich mich nicht mehr spürte.» André hat Alkohol auch als Flucht empfunden.

Keiner fragt nach

Seine USA-Episode löste Empörung aus: «Was hast denn du für Freunde, die nicht auf dich schauen?» Er war irritiert. «Ich war ja derjenige, der getrunken hat.»

Weder André noch Nina werden auf ihr Trinkverhalten angesprochen. Allenfalls wird der enthemmte Konsum als Indiz für einen charakterlichen Defekt gesehen. Wer sich nicht beherrschen kann, so scheint es, hat das Leben wohl sonst nicht im Griff.

Nina Meier ist schon früher gern herumgezogen. Sie trank mal mehr, mal weniger. Vor sieben Jahren fing es damit an, dass sie sich bis zum Filmriss betrank. Dahinter steckte keine Absicht. Doch die Abstürze wiederholten sich, ein Muster entstand. Sie ist fünfzig. Dass bei Frauen diese Masslosigkeit eher verurteilt wird als bei Männern, lässt sie unbeeindruckt. Aber sie möchte da wieder herausfinden. «Ich will meine Partnerschaft nicht aufs Spiel setzen, mein Partner empfindet es als Vertrauensbruch.» Seit kurzem macht sie eine Gesprächstherapie.

Auch André will den Mr. Hyde definitiv abstreifen. Erst musste er sich eingestehen, dass diese häufigen Total-Blackouts nicht einfach hinnehmbar sind. Scham stellte sich ein. Dann begann er, über Alkohol zu recherchieren, besuchte Selbsthilfegruppen Selbsthilfegruppen «Viele denken an Jammergruppen im Stuhlkreis» und nahm an einem Online-Kurs zu übermässigem Trinken teil.

«Es tat so gut», seine Erleichterung ist mit Händen zu greifen, «sich zu öffnen und mal über die Alkoholabstürze zu reden und darüber, was dahinterstecken könnte.» Befreit hat es ihn mehr als die Räusche zuvor.

Alkoholsucht: So erkennen Sie sie

An der Grenze zur Alkoholabhängigkeit

  • Man denkt häufig an Alkohol: Sind genügend Vorräte vorhanden?
  • Schuldgefühle wegen des Alkoholkonsums.
  • Man vermeidet Anspielungen auf den Alkoholkonsum.
  • Heimliches Trinken, «vorsorgliches» Trinken.
  • Gieriges Trinken der ersten Gläser.


Psychische Abhängigkeit vom Alkohol

  • Starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren.
  • Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Konsums.
  • Eingeengte Verhaltensmuster: Trinken beeinflusst den Tagesablauf.
  • Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen und Interessen zugunsten des Trinkens.
  • Anhaltender Konsum trotz körperlichen, sozialen oder psychischen Folgeproblemen.
Alkoholsucht: Hier finden Sie Hilfe

Darum hilft fettiges Essen nicht gegen den Kater

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Fettiges Essen hilft gegen den Kater? Von wegen! Dr. Claudia Twerenbold klärt auf – in einer weiteren Episode unserer Reihe «Gesundheit! Danke.»
Quelle: Beobachter Bewegtbild

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