Frage: «Ich habe immer wieder Depressionen, möchte meine sechs- und elfjährigen Kinder aber nicht damit belasten. Soll ich die Krankheit verschweigen oder es ihnen sagen?»

Antwort von Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie Präsident von Pro Mente Sana: 

Dass Sie Ihre Kinder schützen wollen, kann ich gut nachvollziehen. Instinktiv möchten wir als Eltern den Kindern Belastungen ersparen, dazu gehört eben auch eine Krankheit bei einem Elternteil. Die MS-erkrankte Mutter legt die Injektion so, dass die Kinder nur wenig davon merken. Danach ist es ihr nämlich eine Weile speiübel. Der Vater mit der Kniearthrose beisst auf die Zähne, wenn er mit der Tochter Fussball spielt, er weiss, wie wichtig es ihr ist.

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Auch Sie versuchen mit allen Mitteln, sich auf die Sechsjährige zu konzentrieren, während sie vom Kindergarten erzählt. Innerlich spüren Sie aber diesen diffusen Schmerz, der sich oft in der Depression zeigt. Die Tochter mit ihren Erlebnissen ist in dem Moment weit weg. Es braucht unglaubliche Kraft, ihr trotz der emotionalen Schmerzen zuzuhören. Nach fünf Minuten sind Sie erschöpft. Das macht es schwierig, für beide.

Kinder fühlen sich schuldig

Allerdings: Kinder merken erstaunlich viel. Sie können meist genau beschreiben, wie sich der Blick der Mutter verändert, wenn sie depressiv ist. Sie merken, dass sie rascher gereizt reagiert oder sich der Postberg auf dem Tisch in der Woche nicht bewegt hat.

Damit dürfen wir die Kinder nicht allein lassen, denn ohne unsere Erklärungen können sie ihre Eindrücke nicht einordnen. Leider tun sie das aber trotzdem – nur eben falsch. Kinder gehen davon aus, dass die Veränderungen durch sie verursacht sind. «Mami reagiert gereizt, weil ich so tollpatschig bin», denkt die Sechsjährige. «Ich muss bessere Noten heimbringen, dann ist Mami wieder zufriedener», der Elfjährige.

«Fragen Sie die Kinder, welche Veränderungen sie wahrgenommen haben.»

Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH

Sie sollten deshalb mit den Kindern über Ihre Depression sprechen. «Seit dem Sommer bin ich immer so traurig, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Ich habe deshalb mit der Hausärztin gesprochen und sehe nun eine Psychologin. Sie ist sehr nett, sie heisst Frau Müller. Sie hat mir erklärt, dass ich eine Depression habe. Das ist eine Krankheit wie die Lungenentzündung, die Grossmutter gehabt hat. Auch die Depression dauert eine Weile, dann wird es aber hoffentlich wieder besser.» Das ist ein möglicher Einstieg in ein solches Gespräch.

Fragen Sie dann die beiden, welche Veränderungen sie wahrgenommen haben. Helfen Sie ihnen, das Ganze einzuordnen. Es kann nicht genug betont werden, dass Kinder in der Regel davon ausgehen, dass sie schuld sind an den Veränderungen.

Ebenfalls wichtig sind gemeinsame Worte, um über das Erlebte zu sprechen. Bei älteren Kindern kann man den Krankheitsbegriff verwenden: «Die Depression ist heute sehr stark, wir müssen leider unseren Einkauf auf Samstag verschieben.» Bei kleineren Kindern hilft eine bildhafte Sprache: «Heute muss ich wieder den Depressionsrucksack tragen, den mit den schweren Steinen. Deshalb können wir nur kurz spielen. Dann muss ich im Bett wieder zur Ruhe kommen. Du kannst aber bei mir im Zimmer spielen.»

Normales wie ein Zoobesuch ist wichtig

Kinder möchten helfen. Geben Sie ihnen ein paar Anregungen, was helfen könnte. Etwa dass sie Ihnen ein warmes Kirschkernkissen bringen, wenn Sie sich hinlegen. Die Kinder brauchen jedoch auch Schoninseln, wo sie wirklich Kind sein dürfen. Der Zoobesuch mit einer nahestehenden Person am Samstag ist jetzt das Richtige.

Entlastung ist aber auch für Sie als Mutter sehr wichtig. Depressive Mütter verbringen trotz der Krankheit gern Zeit mit den Kindern, haben aber Mühe, die Verantwortung allein zu tragen. Deshalb ist die regelmässige Unterstützung durch Grossmutter, Kindersitter oder Entlastungsdienst so wichtig.

Schützen Sie sich selbst vor schlechtem Gewissen. Sie haben sich ja die Depression nicht ausgesucht. Unsere Hauptaufgabe als Eltern ist es, Kinder zu befähigen – befähigen, mit den Schwierigkeiten des Lebens umzugehen. Dazu gehören ein Arbeitsplatzverlust, ein unerwarteter Umzug, schwierige Lehrpersonen, aber auch Krankheiten, auch psychische.

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