Margret F.: «Ich fühle mich so einsam. Auch unter Menschen spüre ich nur Leere. Am schlimmsten ist es aber, wenn ich ganz allein bin. Ich hatte das schon als Kind.»

Antwort von Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie Präsident von Pro Mente Sana:

Ich lese eine grosse Not aus Ihren Zeilen. Das macht mich sehr betroffen. Wir Menschen sind in der Regel sehr soziale Wesen. Beziehungen sind uns wichtig, deshalb trifft uns Einsamkeit oder das Gefühl, nicht dazuzugehören, sehr. In unserem Kern wünschen wir uns einen starken Fels oder eine warme Kerze. Dort innere Leere zu verspüren ist sehr belastend.

Es gibt Menschen, die Ähnliches wie Sie im Rahmen einer Depression erleben. Wenn die Stimmung sinkt und der Nebel der Depression kommt, zeigt sich auch diese tiefe innere Verzweiflung. Lichtet sich der Nebel, verschwinden auch Zerrissenheit und Einsamkeit. Fast häufiger berichten Betroffene aber, dass es wie bei Ihnen ist – die Leere war immer schon da, schon in der Jugend oder bereits als Kind.

Ich illustriere mit einem Bild, wie so etwas in der Kindheit entstehen kann. Als Kinder sind wir stark von unserer Umgebung abhängig. Die Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen ernähren uns, lachen uns an und trösten uns. 

In der Kinderseele keimt es zart

Gleichzeitig tragen wir alle einen Keim in uns. Dieser kann durch die Fürsorge und die Liebe des Umfelds spriessen. Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen wässern also diesen Keim, schützen ihn vor zu viel oder zu wenig Sonne. Langsam wächst eine zarte Pflanze in uns heran. Sie saugt alles auf, was von aussen kommt, und verinnerlicht es mit der Zeit. Die Pflanze wird zu einem kleinen Baum mit festen Wurzeln im Boden. 

Dieser kleine Baum kann vieles. Er gibt uns Mut gegen Ängste, er tröstet uns. Und in ihm sitzt unser Selbstvertrauen. Er wiegt sich zwar im Wind, aber wir können uns auf ihn verlassen. Wenn wir allein sind oder das Leben grosse Wogen wirft, können wir uns an ihm halten. Er wird immer noch ab und zu von anderen gegossen – wenn wir Lob erhalten oder Wertschätzung –, aber eigentlich müssen wir ihn selbst hegen.

Nun gibt es Menschen, bei denen wächst dieser innere Baum nicht. Es kann am Keim liegen, vielleicht hat das Umfeld seine spezifischen Bedürfnisse nicht erkannt. Vielleicht war Mutter oder Vater lange krank, hatte zu viele Sorgen und Stress und konnte sich zu wenig um den Baum kümmern. Manchmal machen auch alle alles richtig, und trotzdem kann der Keim nicht spriessen. 

Wir haben aber zum Glück nicht nur diesen einen Keim. Wir haben verschiedene Reservekeime – für die Situation, wenn es eben zu trocken, zu feucht oder zu schattig ist. Aus einem solchen Reservekeim kann dann ebenfalls eine Pflanze wachsen. Sie ist anders, sie ist kein fest verwurzelter Baum, sondern vielleicht eine Hecke. 

Die Einsamkeit ist der leere Platz in der Mitte

Diese Hecke ist rund und bildet einen guten Sichtschutz gegen aussen. Sie zeigt ihre schönsten Blätter gegen aussen, ist Nistplatz für viele Tiere und wird von vielen Menschen geschätzt, weil sie Schutz vor der Sonne bietet. Aber da, wo eben sonst der Baum wäre, tief im Innersten, da ist ein leerer Platz, wo nichts gewachsen ist.

Ich weiss natürlich nicht, ob diese kleine Geschichte für Sie passt. Es kann aber sein, dass Sie so ein Heckenmensch sind, kein Baummensch. Sie schreiben, dass Sie sich in der Beziehung zu Ihren Hasen am glücklichsten und geborgensten fühlen, meist wohler als mit Menschen. Und Sie schreiben, dass Sie gerne anderen Menschen helfen und oft gut erkennen, was sie brauchen. Das sind Ihre Stärken. Ihre Einsamkeit und Verletzlichkeit ist dieser leere Platz in der Mitte. Immer wenn Sie in Not sind, suchen Sie instinktiv dort Hilfe und finden dort dann wenig Halt.

Was kann helfen?
  1. Würdigen Sie Ihre «Hecke»: Sie hatten es nicht leicht im Leben, mussten sich vieles selbst erarbeiten, mit wenig Unterstützung. Entstanden ist eine dichte Hecke. Würdigen Sie deshalb diese Leistung.
  2. Vergleichen Sie nicht – oder möglichst wenig: Sie haben sich eine innere Hecke erschaffen. Eine Hecke ist nicht schlechter als eine Tanne, einfach anders. Auch Tannen sind nicht perfekt, und wer eine Tanne hat, denkt, dass ein Ahorn besser wäre.
  3. Und was ist mit dem leeren Kreis in der Mitte? Auf ihm wächst leider nichts. Die Hecke kann aber nicht nur gegen aussen wachsen, sondern auch gegen innen. So wird der leere Kreis immer kleiner. Fokussieren Sie möglichst wenig auf das, was fehlt. Fokussieren Sie aber möglichst oft auf das, was Sie haben, und bauen Sie davon ausgehend aus.

Haben Sie psychische oder soziale Probleme?

Schreiben Sie an:

Thomas Ihde, Beobachter, Postfach, 8021 Zürich; thomas.ihde@beobachter.ch.

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Matthias Pflume, Leiter Extras
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