6.30 Uhr

Der Wecker klingelt. Es ist noch dunkel, die Knochen sind müde, mein Nacken von der hektischen Woche verspannt. Griff zum Handy. 27 neue E-Mails – ganz zu schweigen von all jenen, die gestern unbeantwortet in der Mailbox liegen geblieben sind. «Kannst du kurz …?», «Wir brauchen bis heute Nachmittag …», «Sitzung auf 10 Uhr verschoben», «Nur noch eine kleine Änderung …».

6.35 Uhr

Es ist gerade einmal 6.35 Uhr, und schon wird mir zum ersten Mal an diesem Tag bewusst, dass ich bereits komplett im Verzug bin. Da gibts nur eins: aufstehen und mit dem Smartphone aufs WC. Alles andere wäre Zeit-verschwendung. Dasselbe gilt fürs Zähneputzen. Mentale Notiz an mich selbst: Lerne, mit der linken Hand Zähne zu putzen, um mit der rechten Hand effizienter zu tippen.

Kaffee. Es muss Kaffee her. Dringend. Nein, nicht der Weichspül-Leggero, sondern das harte Zeug. Doppelter Espresso. Schwarz. 6.55 Uhr. Noch 16 unbeantwortete E-Mails. Ich öffne schnell den Laptop, bevor alle in den Büros ankommen und anfangen, mich mit neuen E-Mails und Slack-Nachrichten zuzumüllen.

«Nie zuvor habe ich so viele Frauen erlebt, die verzweifelt versuchen, allem und jedem gerecht zu werden. Frauen stehen permanent unter Strom», schreibt die australische Biochemi-kerin Libby Weaver in ihrem Buch «Das Rushing-Woman-Syndrom». Da sei diese ständige Anspannung, das Gefühl, dass die Zeit niemals reicht, die To-do-Liste niemals aufgearbeitet ist und dass man stets alles im Griff haben muss.

Selbstverständlich ist Stress nicht per se weiblich. Auch Männer sind gestresst. Aber anders. Das fängt schon bei der Wahrnehmung an. Im Auftrag der europäischen Physiological Society haben über 2000 Britinnen und Briten verschiedene Lebensereignisse nach Stresslevel eingestuft. Zu den abgefragten Szenarien gehörten etwa der Tod eines Angehörigen, Krankheit oder finanzielle Probleme. Das Ergebnis: Frauen empfanden nach eigenen Angaben alle abgefragten Ereignisse als stressiger als die männlichen Studienteilnehmer.

Stress ist nicht gleich Stress

«Biologisch betrachtet ist das überraschend, da Frauen im gebärfähigen Alter sehr stressresistent sind», sagt Ulrike Ehlert, Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich. Trotzdem sind diese Ergebnisse keine Ausnahmeerscheinung.

Auch im Rahmen einer Studie ihrer Arbeitsgruppe mit Frauen und Männern, die ein Kurzreferat vor einem Gremium hielten, gaben die Frauen bei der anschliessenden Befragung überdurchschnittlich häufig an, die Situation als belastend wahrgenommen zu haben. Die Männer empfanden die Aufgabe hingegen vielfach als machbar. Besonders spannend: Trotz des subjektiven Stressempfindens der Frauen zeigte der Blick auf den Hormonspiegel eine andere Realität. «Die Frauen wiesen im Vergleich zu den Männern einen deutlich geringeren Anstieg des Stresshormons Cortisol im Blut auf», so Ehlert.

Frauen fühlen sich also gestresst, selbst wenn sie es hormonell betrachtet nicht immer sind. Das ist immerhin ein Vorteil. Wenn sich der Mensch in einer Stresssituation befindet, steigt der Spiegel des körpereigenen Stresshormons Cortisol. Kurzfristig kann das zwar hilfreich sein, um eine herausfordernde Situation zu bewältigen, sagt Ehlert. Wer dem Körper allerdings keine Gelegenheit gibt, um sich zu erholen, verringert mit dem anhaltend hohen Cortisolspiegel langfristig die Wirkung des Parasympathikus, der für die Erholung zuständig ist.

11.30 Uhr

Wie um alles in der Welt ist es schon wieder beinahe Mittag? Und welches Naturgesetz schreibt eigentlich vor, dass To-do-Listen immer gleich lang bleiben, egal, wie viele Punkte man auf ihnen abhakt? 13 Uhr. Zeit für ein kurzes Mittagessen. Ein Sandwich am Schreibtisch. Weil Stress. Kaffee. Mehr Kaffee. Schokoriegel gegen Nachmittagstief. Und plötzlich dieses ungute Gefühl im Körper. Die Augen tun weh, weil ich schon seit Stunden pausenlos auf den Computer starre. Der Rücken schmerzt, weil ich ihm – trotz guter Vorsätze – keine Entlastungspausen gegönnt habe. Der Bauch bläht sich auf, weil ich zu viele Kohlenhydrate und zu viel Koffein konsumiert habe. Eine kurze Sporteinheit oder immerhin eine Runde um den Block wäre jetzt ideal. Aber keine Zeit. Muss arbeiten. Immer weiter.

Stress ist ein Teufelskreis, weiss Vica Tomberge vom Institut für Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin an der Universität Bern. Wer gestresst ist, hat weniger Zeit, um sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben und genug zu schlafen. All das würde dem Körper aber nicht nur dabei helfen, den Stress abzubauen, sondern auch widerstandsfähiger zu werden, um künftige Stresssituationen besser zu bewältigen. Stress rächt sich also gleich doppelt.

Besonders häufig davon betroffen sind Mütter. Sie müssen noch immer den verhältnismässig grösseren Berg an Haus- und Betreuungsarbeit leisten – und das vielfach in Kombination mit einem bezahlten Job. «Erst seit relativ kurzer Zeit arbeiten Frauen in Berufen, die lange ihren Vätern vorbehalten waren, ohne jedoch die Aufgaben ihrer Mütter abzugeben. Das Ergebnis ist vielfach eine verzweifelte Doppelschicht», schreibt Autorin Libby Weaver in ihrem Buch. So verwundert dann auch das Studienresultat der US-amerikanischen Gesundheitsberatungsfirma Maven wenig. Dieses hat gezeigt, dass Mütter in einer bezahlten Beschäftigung 23 Prozent häufiger an Burn-outs leiden als Väter.

Weniger Lohn, mehr Frust

Wissenschaftlerinnen kamen zudem zum Schluss, dass die Gründe für Burn-outs keineswegs durch einen biologischen Unterschied zu erklären, sondern eher mit den traditionellen Geschlechterrollen verbunden sind, die beispielsweise zu unfairen Bedingungen am Arbeitsplatz führen. Frauen verdienen im Durchschnitt weniger als Männer; in der Schweiz ganze 11 Prozent. Expertinnen vermuten, dass ein niedriges Einkommen zu mehr Stress und langfristig zu einer schlechteren psychischen Verfassung führt. Forschende der Universität Montreal beobachteten während vier Jahren gut 2000 Angestellte – und stellten fest, dass Frauen seltener befördert wurden und deshalb weniger Führungspositionen belegten. Das wiederum führte zu mehr Stress und Frustration und letztlich zu einer höheren Burn-out-Rate.

Ein Leben auf der Überholspur kann aber noch zahlreiche weitere Folgen haben. Überforderte Nebennieren, zum Beispiel eine gestörte Schilddrüsenfunktion, einen verminderten Sexualtrieb bis hin zu einer Reihe an stressbedingten Magenschmerzen und Verdauungsstörungen. Durchs Leben zu hetzen, macht Frauen krank.

«Wer das Gefühl hat, für sich selbst entscheiden zu können, kann auch besser mit Stress umgehen und wird Wege finden, für sich zu ­sorgen.»

Vica Tomberge, Institut für Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin an der Universität Bern

Das muss allerdings nicht sein, erklärt Vica Tomberge: «Wichtig ist, das Gefühl zu haben, schwierige Situationen meistern zu können, also die wahrgenommene Kontrolle innerhalb des stressigen Alltags.» Meist sei es nicht die Anstrengung an sich, die den meisten Stress erzeugt, sondern das Empfinden, dem Alltag machtlos ausgeliefert zu sein. «Wer das Gefühl hat, für sich selbst entscheiden zu können, kann auch besser mit Stress umgehen und wird Wege finden, für sich zu sorgen.»

Tomberge ist zudem überzeugt, dass Selbstfürsorge immer noch viel zu häufig als egoistischer Akt anstatt als essenzielle Notwendigkeit betrachtet wird. «Nur wer sich selbst Sorge trägt, kann sich um andere kümmern. Dafür muss man allenfalls auch einmal fremde Hilfe in Anspruch nehmen und das als Erfolgsstrategie und nicht als Niederlage interpretieren. Denn aktiv um Hilfe zu bitten, ist auch ein Weg, um Ressourcen aufzubauen und das Gefühl der Kontrolle über den stressigen Alltag zu fördern», so die Psychologin weiter.

Letztlich ist das grösste Übel auf die eigenen Ansprüche zurückzuführen. «Es ist zentral, die eigenen Ressourcen und Ansprüche in Einklang zu bringen», führt Ulrike Ehlert von der Universität Zürich an. Viel zu häufig sehe sie in ihrem Berufsalltag Menschen, die immer noch mehr möchten. Eine grössere Wohnung, ein besseres Auto, mehr Ferienreisen. All das kostet Geld. Geld, das man unter Umständen nur mit Mehraufwand verdienen kann. Wer hingegen bewusst auf gewisse materielle Luxusgüter verzichtet, kann sein Leben entstressen. «So ein Entscheid braucht Mut, wird von der heutigen Gesellschaft vielleicht sogar mit Versagen gleichgesetzt. Umso wichtiger ist es, über diesen Verurteilungen zu stehen und das zu tun, was für einen selbst wirklich stimmt», ist Ehlert überzeugt.

18.00 Uhr

Die E-Mails stapeln sich. Immer noch. Schon wieder. Die Grenzen verschwimmen. Warum tu ich mir das an?, frage ich mich plötzlich. Wann ist genug? Und gibt es überhaupt ein «genug»? Erreichen wir irgendwann das Ziel, oder verharren wir auf ewig in der Esel-Karotten-Situati on? Habe keine Zeit, nachzudenken. Katharina will noch eine kleine Änderung. Und Michel und Luis brauchen spätestens bis morgen 8 Uhr die Präsentation. «Sorry, ich kann heute Abend doch nicht ins Kino. Muss noch was fertig machen», schreibe ich einer Freundin.

Es ist dunkel, die Knochen sind müde, der Nacken verspannt. Morgen wird alles besser. Morgen schalte ich einen Gang zurück.

6.30 Uhr

Der Wecker klingelt. Alles fängt von vorn an.

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