Beobachter: Caroline Theiss, wie ist die Stimmung in den Betrieben nach zweieinhalb Jahren Pandemie?
Caroline Theiss: Die Haut ist dünner geworden. Viele sind erschöpft. Die Betriebe möchten unterdessen, dass die Mitarbeitenden wieder ins Büro kommen, aber viele stecken im Homeoffice fest. Das ist ein Problem, weil man den Kontakt zueinander verliert. Unterdessen kommt es auch öfter zu Missverständnissen.


Worunter leiden die Menschen am meisten?
Viele fühlen sich existenziell bedroht. Es ist ja nicht bei der Pandemie geblieben: Putin hat Corona am 24. Februar sozusagen beendet, und ohne einen Tag Pause sind neue Krisen gekommen: Krieg, Energiekrise, Inflation, Affenpocken – und der nächste Pandemiewinter steht auch schon wieder vor der Tür. Viele sagen mir, sie mögen schon gar keine Zeitung mehr lesen. Aber wir können uns dem nicht entziehen, die Krisen sind bereits im Alltag spürbar, etwa als Lieferengpässe. Es hat sich eine grosse Verunsicherung eingeschlichen.


Wie unterstützen die Firmen ihre Angestellten?
In den Firmen höre ich leider immer noch häufig: «Wir müssen Berufliches und Privates trennen.» Dann denke ich mir jeweils: Wie soll das bitte gehen? Chirurgisch? Da kommt ja ein Mensch zur Tür rein, mit seinen privaten Sorgen und seiner reduzierten Arbeitsleistung. Letztlich wollen viele CEOs nichts mit den privaten Problemen ihrer Mitarbeitenden zu tun haben.


Da dürfte ein Selbstmanagement-Workshop gerade recht kommen, das klingt doch nach Effizienz und Leistungsfähigkeit.
Deshalb habe ich das Angebot auch so genannt! Aber im Ernst: Darum geht es mir in einem ersten Schritt überhaupt nicht. Zuerst muss ich die Menschen wieder in Verbindung zu ihrem Körper bringen. Zum Einstieg frage ich deshalb häufig: «Wenn du dein Handy wärst, wie viel Ladezustand hast du im Moment?» Die Antwort lautet dann oft: «Nicht mehr als 30 Prozent.» Dann sage ich: «Okay, und was machst du nun mit deinem Handy? Öffnest du fünf Anwendungen, die brutal viel Saft ziehen, oder steckst du es ein, damit es aufladen kann?» Das ist eine Sprache, die verstanden wird. Die meisten sagen dann: «Ich drücke die Erschöpfung weg, trinke noch einen Kaffee und mache einfach weiter.» Wenn das mal geklärt ist, beginnen wir zu überlegen: Was stimmt nicht? Und wo kann ich was ändern?

«Wir sollten uns unsere Katzen zum Vorbild nehmen, die den ­ganzen Tag auf dem Teppich liegen und genüsslich alle ­viere von sich strecken.»

Caroline Theiss, Selbstmanagement-Coachin

Wie zapft man seine Ressourcen an?
Nicht über den Verstand. Wenn ich mich ständig über bestimmte Situationen ärgere, hilft es nicht, an den Verstand zu appellieren und zu sagen: Nimms doch gelassen. Ich weiss selbst, dass Ärger nichts bringt. Das sind automatisierte Stressreaktionen, da kann ich nicht einfach den Schalter umlegen. Deshalb fragen wir an dieser Stelle das Unbewusste: Was brauche ich eigentlich?


Und, was antwortet es?
So manche hat am Anfang der Homeofficezeit gesagt: «Time of my life! Ich esse jeden Tag gemeinsam mit meinem Partner auf dem Balkon.» Aber nach zwei Jahren merken die meisten, dass sie wieder mehr Grenzen brauchen. Sie checken beim ersten Kaffee ihre Mails und hören eigentlich nicht mehr auf zu arbeiten. Die Arbeit ist ins Zuhause hineingekrochen. Viele möchten einfach um fünf den Computer runterschalten können und zufrieden mit sich sein – auch wenn sie nicht alles geschafft haben. Arbeitsbelastung und Tempo steigen von Jahr zu Jahr, und egal, wie schnell wir heute laufen, im kommenden Jahr werden wir schneller laufen. Wenn ich da nicht lerne, manchmal auch mit Suboptimalem zufrieden zu sein, bin ich nonstop gestresst.


Wie kommt man dahin?
Man muss sich für seine Leistungsorientiertheit und sein Pflichtgefühl nicht auch noch verurteilen – diese haben einen ja auch weit gebracht. Aber man muss lernen, zu sich selbst zu sagen: Ich erlaube mir, dass diese Seite von mir um 17 Uhr in den Feierabend geht und ich mir dann meine Katze zum Vorbild nehme, die den ganzen Tag auf dem Teppich liegt und genüsslich alle viere von sich streckt.


Die Katze als Bild für das süsse Nichtstun, das wir wieder erlernen müssen?
Genau. Beim Zürcher Ressourcenmodell arbeiten wir mit positiven Bildern. Denn im Alltag sind wir oft mit Verneinungen unterwegs: Ich will nicht mehr so viel arbeiten, nicht mehr gestresst sein. Das Problem mit solchen Vermeidungen ist: Wir wissen, was wir nicht mehr wollen, aber nicht, was wir wollen. Deshalb kommen wir nirgendwohin. Aber wenn ich ein persönliches Leitbild positiv formuliere, kann mich das weit bringen.


Haben Sie auch für sich so ein Leitbild gefunden?
Ich habe mich zu Hause oft über das Chaos meiner Teenager geärgert und ihnen ständig nörgelnd hinterhergeräumt, was mich nur erschöpft und die Stimmung im Haus vergiftet hat. Bis ich das Bild der Pippi Langstrumpf für mich gefunden habe: Sie ist fröhlich, auch wenn um sie herum das Chaos herrscht.


Und das funktioniert?
Über Unordnung rege ich mich kaum mehr auf. Auch andere Themen wie Nervosität habe ich abgearbeitet. Aber natürlich gibt es Belastungssituationen, die so existenziell sind, dass es einem einfach wegrutscht. Mir passiert das zum Beispiel, wenn ich mir um meine Kinder Sorgen mache. Aber auch da erkenne ich mittlerweile sehr schnell, wenn der «Stress-Zug» einfährt, und es gelingt mir immer öfter, nicht einzusteigen und weiter in der Steuerzentrale zu bleiben.


Um noch einmal auf die aktuelle Zeit zurückzukommen: Gibt es einen Menschen, dessen Umgang damit Sie besonders beeindruckt hat?
Neulich habe ich mit einer jungen Frau gearbeitet, die noch nicht lange in der Schweiz lebt. Sie hat wegen der Pandemie einen starken Kontrollverlust erlitten, wie wir alle. Auf einmal waren all ihre Pläne dahin, sie wusste nicht weiter. Sie hat dann für sich das Leitbild «I embrace the uncertainty», also «Ich nehme die Ungewissheit an», definiert. Das hat es für mich wunderbar getroffen. Gerade in diesen wilden Zeiten kann uns ein Leitbild helfen, da stabil und gleichzeitig flexibel agierend durchzukommen. Vielleicht sehe ich mich selbst auf dem Surfbrett stehen und elegant die nächste Welle nehmen. Letztlich geht es darum, den Menschen einen anderen Blick auf sich selbst zu ermöglichen. Und dafür eignen sich diese Zeiten sehr gut, weil wir uns jetzt so deutlich spüren.

Das Zürcher Ressourcenmodell

Das Zürcher Ressourcenmodell ist ein Selbstmanagement-Training und wurde von den Psychologen Maja Storch und Frank Krause für die Universität Zürich entwickelt. Mit seiner Hilfe soll sich der Mensch über seine Lebensthemen klarwerden, entsprechende Ziele entwickeln und eigene Ressourcen entdecken, um diese Ziele zu erreichen. Das gewünschte neue Verhalten kann etwa mit bestimmten Reizen im Alltag stimuliert werden. So können alte Denk- und Handlungsmuster überwunden und neue Schritt für Schritt eingeübt werden. Caroline Theiss: «Wichtig ist, dass man sich selbst gegenüber wohlwollend bleibt, auch wenns mal nicht auf Anhieb klappt.»

Zur Person

Caroline Theiss war Physiotherapeutin, bevor sie sich zur Coachin nach der Methode des Zürcher Ressourcenmodells ausbilden liess. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich und bietet in der Schweiz und in Deutschland Seminare und Coachings für ein besseres Selbstmanagement an.

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