Uns fehlen die Babys. Die Geburtenrate bricht ein. Historischer Tiefstand. Nur noch 1,39 Kinder pro Frau. Was soll ich mit solchen Schlagzeilen anfangen?

Abgesehen davon, dass ich mich unweigerlich frage – ganz ohne lustig sein zu wollen –, wie 1,39 Kinder aussehen, kümmert mich die Information schlicht nicht. Schliesslich verändert sich die Quote ja nie dramatisch, sie geht mit wenigen Ausnahmen immer nur leicht zurück. Eine Rückkehr zu Familien mit elf Kindern, wie es in der Generation meiner Grosseltern vorkam, ist unwahrscheinlich. 

Doch die Lage scheint ernst zu sein. Ein neuer Bericht des Fachblatts «The Lancet» schätzt, dass im Jahr 2100 weltweit nur noch sechs Staaten eine Geburtenrate von mehr als 2,1 Kindern pro Frau haben werden. Und damit über der Schwelle liegen, um die Bevölkerungszahl durch Geburten stabil zu halten. Samoa, Tonga, Somalia, Niger, Tschad und Tadschikistan. In allen anderen 198 Ländern wird die Zahl der Menschen abnehmen.

Von einem weitreichenden ökonomischen und sozialen Wandel ist die Rede. So was zu lesen bereitet mir schon Unbehagen, auch wenn ich nicht ganz begreife, was das konkret bedeutet.

Wie sich die Bevölkerung in der Schweiz entwickelt, erhebt das Bundesamt für Statistik (BFS) natürlich nicht nur zum Spass. Im Gegenteil, das Amt wurde in der Vergangenheit schon heftig kritisiert für seine Berechnungen. 

Zum Beispiel, als es vor Einführung der Personenfreizügigkeit viel weniger Zuwanderinnen und Zuwanderer aus EU-Staaten voraussagte, als danach kamen. Auch bei der Lebenserwartung liegen die Zahlen manchmal daneben – obwohl diese bei der Diskussion um die Zukunft der Altersvorsorge von entscheidender Bedeutung sind. 

Wen aber kümmert die Geburtenrate also tatsächlich? Wofür wird sie gebraucht? 

Es geht um Bevölkerungsszenarien

Johanna Probst von der Sektion Demografie und Migration des BFS erklärt gegenüber dem Beobachter, dass die jährlich erhobene Geburtenhäufigkeit – also wie viele Kinder pro Frau im gebärfähigen Alter lebend zur Welt kommen – unter anderem relevant ist für die Bevölkerungsszenarien. Diese Szenarien stellen die Bundesstatistiker alle fünf Jahre zusammen und versuchen aufgrund bestimmter Annahmen zu berechnen, wie sich die Bevölkerungszahl entwickeln könnte.

Die Bevölkerungszahl ist dann die Grundlage für viele weitere Berechnungen und Analysen. «Das Bundesamt für Sozialversicherungen nutzt sie für Szenarien, die das höhere Alter betreffen. Aber auch in der Raumplanung sind die Bevölkerungsszenarien relevant.» Wie viele Häuser müssen gebaut werden, wie viele Autobahnen und Spitäler braucht es in den nächsten Jahrzehnten?

Auch im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) seien die Bevölkerungsszenarien ein Thema, nämlich für die Konjunkturanalysen. Und für Schätzungen, wie viele Arbeitskräfte die Schweiz künftig hat. 

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) sagt, dass man sich für die Finanzperspektiven von AHV, IV, EL und EO auf die zentralen Bevölkerungsszenarien des Bundesamtes für Statistik abstütze. Denn die Geburtenrate allein sei nicht aussagekräftig genug, um die Entwicklung der Bevölkerung zu antizipieren.

In den Bevölkerungsszenarien seien auch weitere Faktoren wie die Lebenserwartung und die Migration eingerechnet. «Wir verwenden die Geburtenstatistik als solche nur bei besonderen Fragestellungen», heisst es vom BSV. Zum Beispiel, wenn beurteilt werden muss, wie sich Änderungen in der Erwerbsersatzordnung oder bei den Familienzulagen – wie bei der laufenden Kita-Initiative – auswirken würden.

«Auch um die Kosten von medizinischen Massnahmen für Kinder in der IV zu budgetieren, wird die Geburtenstatistik verwendet», sagt Harald Sohns, Sprecher des BSV, auf Anfrage des Beobachters.

Geburtenzahlen nicht überbewerten

«Am direktesten ist die Geburtenhäufigkeit relevant für den Bildungsbereich», sagt Johanna Probst vom Bundesamt für Statistik. Dort ist sie ein wichtiger Faktor, um zu wissen, wie sich die Schülerzahlen in den Kantonen entwickeln und wann genau wie viele Kinder in die obligatorische Schule kommen. Und wie viele Lehrkräfte es dann braucht. 

Aber man dürfe die Relevanz von Geburtenzahlen nicht überbewerten: «In der Schweiz ist die demografische Entwicklung stark von der Migration beeinflusst und weniger von Geburten und Sterblichkeit. Über die Zeit wird die Migration immer wichtiger für die Erklärung des Bevölkerungswachstums», sagt Probst zum Beobachter. «Fehlende Babys sind nicht unbedingt fehlende Personen auf dem Arbeitsmarkt, weil dazwischen noch Migration passiert.»

Wenn das nächste Mal Zahlen zur Anzahl Kinder pro Frau mit Kommastellen publiziert werden, werde ich das immer noch seltsam finden. Aber dann immerhin an die Schulhäuser, Anzahl Erwerbstätigen und die Bahngeleise denken, die damit zusammenhängen.